"Das hört sich an wie in einer Soap-Opera" sagt der Vater und trifft damit den Kern des Films ebenso, wie die Mutter mit ihren Worten "Es ist mir egal, wie es sich anhört !"
"Zou You" erzählt eine Geschichte aus dem modernen China, wie sie überall vorkommen könnte in einer Welt, in der Ehescheidungen und "Patchwork"-Familien zum Alltag geworden sind. Es ist eine Geschichte über die kleine He-He. Das 4jährige Mädchen ist an Leukämie erkrankt - wie die Eltern gleich zu Beginn erfahren - und hat nur eine Überlebenschance, wenn sie einen geeigneten Rückenmarkspender findet.
He-He lebt mit ihren Eltern in der Großstadt, inmitten riesiger Wohntürme, die wie Pilze aus dem Boden schiessen, um das Bedürfnis nach Wohnraum für die prosperierenden Städte zu erfüllen. "Zou You" zeigt ein China, dass schon ganz in der Neuzeit angekommen ist. Partei oder Politik scheinen keine Rolle mehr zu spielen und auch die Repressionen der Vergangenheit zeigen sich höchstens in Details, wenn etwa erwähnt wird, dass inzwischen zwei Kinder in einer Familie zugelassen sind, nachdem lange Zeit nur ein Kind erlaubt war.
Regisseur und Drehbuchautor Xiaoshuai Wang entwickelt seine Story mit der selben Selbstverständlichkeit, die die Praxis des Alltags den Menschen abverlangt. Die Krankheit der Kleinen wirkt wie ein Anachronismus im funktionierenden Rhythmus, aber sie verdeutlicht auch, dass die Beteiligten keineswegs ihre Emotionen verloren haben. Dieses Gleichgewicht zwischen verständlicher Trauer über das Unglück und der gleichzeitige Wille, etwas dagegen zu unternehmen und die Dinge anzupacken, verhindert nicht nur, dass die Dramatik zu viel Raum einnimmt, sondern erreicht auch, das teils absurde Geschehen stimmig und nachvollziehbar wirken zu lassen.
Obwohl He-He der Auslöser für das Geschehen ist, ist sie nicht der eigentliche Mittelpunkt. Das sind die Erwachsenen, deren Handlungen und Gedanken Xiaoshuai Wang sehr genau beobachtet, und daraus Erkenntnisse zieht, die in ihrer Allgemeingültigkeit jeden Menschen zum Nachdenken darüber zwingen, wie er selbst in einer solchen Situation handeln würde.
Denn tatsächlich ist He-He's Vater nicht ihr leiblicher Vater. Von diesem hatte sich ihre Mutter kurz nach der Geburt getrennt und ihn danach jahrelang aus den Augen verloren. Obwohl dieser regelmässig den Unterhalt für seine Tochter zahlte, hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr. Offensichtlich war die Ehe ziemlich zerrüttet, so dass beide keinen Gedanken mehr an den früheren Partner verschwendeten und inzwischen in neuen Beziehungen glücklich wurden. Jetzt ist He-He's Mutter gezwungen, sich wieder an ihren ehemaligen Mann zu wenden, da dieser ebenso wie sie als Rückenmarkspender in Frage kommt.
Schon diese erste Begegnung verdeutlicht die erzählerische Substanz. Xiaoshuai Wang vermeidet jegliche Plakativität oder dramatische Zuspitzungen. Das Gespräch der früheren Eheleute handelt ausschliesslich von der Gefahr für die gemeinsame Tochter und selbstverständlich stimmt der Vater einer sofortigen Untersuchung zu. Zusätzlich bekommt diese Entwicklung noch Unterstützung durch das Berufsleben der Protagonisten, dass wie selbstverständlich mit einfliesst. He-He's leiblicher Vater ist Bauunternehmer, offensichtlich gut verdienend, aber wird ständig mit dem alltäglichen Ärger auf der Baustelle konfrontiert. Eine gewisse aufbrausende Art ist ihm anzumerken, aber im Privatleben bleibt er immer freundlich. Auch die anderen Berufe der Protagonisten sind sehr zeitgemäss - seine neue junge Frau arbeitet als Stewardess, He-He's Mutter ist Immobilienmaklerin und deren neuer Mann arbeitet als Konstrukteur.
Die Charaktere der Beteiligten erschliessen sich immer genauer und werden dem Betrachter vertrauter, so dass auch die jeweiligen Reaktionen schlüssig bleiben. Bald stellt sich heraus, dass die leiblichen Eltern als Spender nicht geeignet sind und der Arzt nur eine Chance in einem Geschwisterchen sieht, dass die selben Eltern haben muss. "Zou You" hält sich nicht lange mit Überlegungen auf, sondern lässt He-He's Mutter handeln, die sich an ihren ehemaligen Mann wendet und ihn bittet, ihr ein Kind zu machen. Erst einmal per Samenspende...
Dadurch, dass Xiaoshuai Wang hier ein realistisches Szenario entwickelt, entsteht erst die Absurdität in den Verwicklungen, die trotz aller Ernsthaftigkeit immer auch eine gewisse Komik beinhalten. Die jeweiligen neuen Paare hatten es sich in ihrem Leben eingerichtet - He-He's Vater hatte den Kinderwunsch seiner jungen Frau bisher immer unterdrückt, weil ihr aufwändiges Berufsleben aus seiner Sicht keine Zeit für ein Kind liess, und He-He's Mutter hatte sogar einmal abgetrieben, weil sie kein zweites Kind mehr haben wollte. Jetzt werden alle Vier zum Umdenken gezwungen und dabei besonders mit ihrem eigenen Ego konfrontiert, dass von ihnen Rücksichtsnahme und Verzicht verlangt - und das für eine kleine Chance, die keineswegs das Überleben des Kindes gewährleistet.
In "Zou You" geht es nicht um Antworten oder Patentrezepte, sondern um Fragen. Der Film hält seinen hohen Unterhaltungswert nicht nur mit seiner abwechslungsreichen Geschichte und seinen überzeugenden Charakteren aufrecht, sondern vor allem dadurch, dass er den Zuschauer, der sich darauf einlässt, dazu animiert, sich die selben Fragen zu stellen wie die Protagonisten (8,5/10).