Was soll ich bloß sagen? Ich könnte heulen.
Wenn jeder Mensch seinen persönlichen Grund finden sollte, die alte Liebe zu Film und Fernsehen wiederzuentdecken, meiner müsste genau dieser Tag sein, an dem Fernsehen und Kino verschmolzen zu einer dichten, gelben Einheit. An dem die große Leinwand die vielen cineastischen Anspielungen der TV-Show zurückgeben konnte. An dem die am längsten laufende und vielleicht die wichtigste Serie aller Zeiten den längst überfälligen Schritt auf die nächsthöhere Ebene machte, ein volles Jahrzehnt nach Überschreiten des eigentlichen Zenits. Der Tag, an dem die “Simpsons” zurückschlugen gegen eine immer lauter gewordene Kritikerschar, die das Unternehmen “The Movie” nicht gutheißen konnte. Ein riskantes Experiment, das unter Umständen gar das Ende der Simpsons hätte bedeuten können, ist geglückt. Aber wie?
Es ist die Liebe zur eigenen Kreation, die Matt Groenings Herzen innewohnt. Und nicht zuletzt die Liebe der elf (!) Drehbuchautoren (quasi ein aus 18 Jahren und Staffeln ausgewähltes All-Star-Team), des Regisseurs David “We call him Dry Bones in the Halloween Shows” Silverman, der vielen treuen Synchronsprecherseelen und aller anderen Beteiligten, die sich einen Traum erfüllten, für den Mann mit dem graumelierten Vollbart und dem Hawaiihemd (die Bekleidung der dicken, fetten Partylöwen) zu arbeiten.
Ich bin 26 Jahre alt, ein Erwachsener, einer aus der ökonomisch relevantesten Zielgruppe (“Ich bin ein weißer Mann zwischen 18 und 49, alle Welt hört auf mich! Juhuu!”), auch wenn mir diese Definition meiner selbst immer noch schwer über die Lippen kommt. Viele Serien haben mich über die Jahre begleitet; diejenigen, die ich im Alter von zehn Jahren begann zu sehen, haben aber inzwischen allenfalls noch nostalgischen Wert. Abgesehen eben von den “Simpsons”. Seit das ZDF am 13. September 1991 erstmals die Folge “Eine ganz normale Familie” ausstrahlte, ist meine Hautfarbe in Gedanken ein gesundes, sattes Butterblumengelb. Es vergeht kein Tag mehr, an dem ich nicht auf der Toilette, beim Essen oder vor dem Fernseher während eines langweiligen Streifens über einen Gag aus dem Munde Homers schmunzeln muss. Diverses Vokabular (“Neinnn!”, “Hmmmm...*irgendeine Speise oder auch etwas anderes bitte hier einfügen*, “Ausgezeichnet”, “Wenn mich jemand sucht - ich bin auf meinem Zimmer” ...) ist ohnehin schon längst in den Sprachgebrauch übergegangen.
Nichts hat sich daran geändert, die Leidenschaft ist über all die Jahre konstant geblieben. Zusammen mit denen, die das Glück hatten, ebenfalls zum exquisiten 80er-Jahrgang zu gehören, bin ich die erste Generation derer, die ein besseres Leben führen, weil ihnen permanent, ihr ganzes Leben lang, ein Zerrspiegel vorgehalten wird. Lacht man als Kind noch über die verzogene Anatomie, die plumpen, deformierten Körper, erwacht die beispiellose Tiefe hinter den eigenwillig gezeichneten Charakteren irgendwann zu voller Blüte und man weiß: man ist einen Bund fürs Leben eingegangen.
Der Kinofilm und sein Drumherum vermitteln das wunderschöne Gefühl, man würde sich ein zweites Mal ganz neu verlieben und diese neu erwachte Liebe in einer 90-minütigen Zeremonie feiern. Dass im Vorfeld gemunkelt wurde, die Braut habe im Grunde ihre ganze Persönlichkeit verloren, sie sei oberflächlich geworden und habe sich gehen lassen, hat man nur zu gerne überhört. Doch wenn man sie da so sieht in ihrem prachtvollen Gewand, weiß man - nichts hat sie verloren, nichts hat sie gehen lassen und nichts ist sie geworden.
Moment, nichts ist sie geworden? Korrekt - hierin liegt der einzige Kritikpunkt, den man dem Kinoausflug machen kann, wenn man es darauf anlegt: Dramaturgisch und handlungstechnisch zergeht er in Stagnation. Er hält sich an altbewährten Formeln fest und greift altbekannte Muster wieder auf. Kein Wunder eigentlich nach Geschichten aus 400 und einer Folge. Schon bei der Produktion der Serie sind die Macher immer wieder darauf bedacht, die Gagschemata nicht zu überreizen und die Handlungsbögen wie auch die Themen zu alternieren, neue Charaktere in den Vordergrund zu stellen, um endlich wieder neue Geschichten erzählen zu können. Von Artie Ziff bis zum Hausmeister Willie haben sie alle schon, oft mehrfach, ihre eigenen Episoden zugeteilt bekommen. Immer neue Themenfelder ergeben sich durch die Eigenschaften der Figuren - von Flanders zur Religion, von Burns zum Kapitalismus, von Skinner zum Bildungssystem.
Nachdem auch alle Nebencharaktere schon längst durchanalysiert wurden, macht der Kinofilm nun das einzig Richtige: Er konzentriert sich wieder voll und ganz auf die Kernfamilie und hier wieder verstärkt auf die Figur, die irgendwann um die zweite oder dritte Staffel herum endgültig Bart als Protagonisten und Publikumsliebling abgelöst hat: Homer Simpson, Atomkraftwerksangestellter und nebenberuflicher Katastrophenverursacher.
Was nun folgt, ist ein überdimensionales Konglomerat aus zwei Jahrzehnten TV-Geschichte: Homer als Zerstörer Springfields, bekannt aus “Der Ernstfall”; Ein von der Umwelt abgekapseltes und isoliertes Springfield, eine Variation von “Wer erschoss Mr. Burns - Teil 1"; ein merkwürdiges Tier, das durch Homers Fürsorglichkeit domestiziert wird, jedoch rein verhaltensbiologisch von den Autoren und Animatoren nicht durch Antropomorphismen vermenschlicht wird, bekannt etwa aus der Folge mit Homer und seinem Hummer; nicht zuletzt der zentrale Vater-Sohn-Konflikt, ein großes Erfolgsgeheimnis in unzähligen Episoden, seit sich die Simpsons auch als Gegenentwurf zur vorbildhaften “Bill Cosby Show” verstehen - also seit jeher.
Um diese zentralen Wiedererkennungspunkte herum spannt sich das Netz der Handlung, die alles andere als signifikant ist und oberflächlich gesehen als zu simpel aufstoßen muss. Doch immerhin leitet sich "Simpsons" aus "simple" ab und ist es da wirklich so überraschend, dass der Plot nicht mit raffinierten Abzweigungen aus ausgeklügelten Twists daherkommt? Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, was wirklich zählt: Die Glaskuppel als hermetische Abriegelung ist eine kongeniale Anspielung auf den alltäglichen Vorspann, der mit sich öffnenden Wolken und der Kamerafahrt durch das "P" hindurch beginnt, in das trügerische Idyll Springfields hinein, sich rasant nähernd aus der Vogelperspektive. Schon immer musste man erst die Pforten der gelben Parallelwelt durchstoßen; das wird nun durch die gläserne Abriegelung manifestiert. Die durch die Redundanz des mehrfach existierenden Namens "Springfield" als fiktiv zu bezeichnende Kleinstadt wird nunmehr endgültig als Miniaturmodell entlarvt, sie ist jetzt eine Schneekugel in den Händen ihrer Macher. Dass sich die Familie Simpson zeitweise außerhalb der Kuppel befindet, entfernt sie kurzzeitig von dem Modell. Eine Meta-Ebene wird betreten. Auch das ist nicht unbedingt neu, wenn man etwa an das "Hinter den Kulissen"-Special denkt - es war aber selten so offensichtlich wie diesmal.
Auch die Struktur weist vielmehr auf eine aufgeplusterte Episode hin als auf ein cineastisches Event. Ein klassischer Dreiakter, gar inklusive (erstmals variiertem) Vorspann, mit einem fast vollständig von der eigentlichen Handlung abgetrennten ersten Teil, einem action- und gefühlsreichen Mittelteil und einem dritten Akt, der darum bemüht ist, den Status Quo wieder herzustellen. Eine ganze Stadt kann in Trümmern liegen, aber eines ist klar: In “The Simpsons - the Second Movie” wird Homer auf der Couch sitzen, fernsehen und Pork Chops in sich hineinschaufeln. In all seiner Vorhersehbarkeit ist der Kinofilm letztendlich nichts anderes als eine Parodie auf eine Simpsons-TV-Folge, und das damit einhergehende Brechen der Erwartungen des Publikums - die haben entweder ein 3D-unterstütztes, cineastisches Spektakel erwartet oder drei Folgen hintereinander - ist so typisch Simpsons, dass man alleine deswegen nach dem Abspann schon applaudieren möchte. Wer hier fehlende Originalität bemängelt, hat schlichtweg das Konzept nicht verstanden. Denn im Grunde liegt doch genau hierin die ganze Klasse begraben, die "The Simpsons Movie" zu einem Meisterwerk macht: das aufgeblasene Kinoformat, das hätte möglich sein können, wird dankend abgelehnt und die Hand, die füttert, einmal mehr gebissen. Die Simpsons sind die Simpsons und werden es immer bleiben - auch wenn man von ihnen erwartet, die Form eines goldenen Götzen anzunehmen.
Zum Konzept gehört eben auch die gar nicht mal so modern wirkende Animation, die zwar im direkten Vergleich mit den TV-Bildern angenehm aufpoliert wurde, aber halt immer noch den Charme einer handgezeichneten Arbeit verinnerlicht hat. Groening hatte als ausführender Produzent auch ein Auge darauf, dass jedes Bild für sich eine eigene Individualität ausstrahlt. Alleine die vielen kleinen unverwechselbaren Gesten der Figuren - das beiläufige Kratzen Homers an seiner Nase, sein immer wieder anders gestalteter Würgegriff gegen seinen Sohn, die Art, wie Marge ihr Haar herunterdrückt, als sie sich im Zug versteckt oder Lisas “uncooles” Verhalten, als sie von dem umweltpolitisch engagierten Jungen ein Lob bekommt. Das ist die Magie des altertümlichen 2D-Films, und in einer längst übertechnologisierten Welt, die im Kino sowieso nur noch computeranimierte Filme zulässt, demonstriert dieses Werk eine Echtheit, ein Herz, das ein CGI-Film bis dato noch nie auch nur ansatzweise hat beweisen können.
Wirklich zur Größe steigen Serie wie Film im Gleichschritt aber im Detail auf. Schon immer war das Intellektuelle in der Welt Springfields hinter groben Gesten versteckt, kleinlaut kapitulierend vor der vordergründigen Slapstick, die von der breiten Masse registriert wird. Wenn Homer sich einen Hammer ins Auge haut, untermalt mit einem saftigen Toneffekt, kommt das in allen Breitengraden an, denn Schmerzen sind lustig. Das Grandiose ist aber die Variation: Der Hammer-auf-Nagel-Gag wird im Film mindestens dreimal wiederholt, und ebenso oft unterwandert das Autorenteam jegliche Erwartungen daran, wie die Szene ausgehen wird. Ähnliches geschieht, wenn Bart nackt auf einem Skateboard durch die Stadt rast, das pikante Detail immer kunstvoll verborgen, so wie man es eben aus zig Komödien kennt - bis dann aber eben doch jegliche Erwartungshaltung Hals über Kopf umgedreht wird. Die Groening-Hydra und ihre Dutzende von rauchenden Köpfen denkt im Bestfall immer mindestens einen Schritt weiter als das Publikum - diese Kategorie beherrscht die Silverman’sche Überfolge wie aus dem Schlaf.
Aber die liebgewonnene Kritik an der amerikanischen Gesellschaft leidet darunter keineswegs. Während Amerikas Prüderie bereits nach der Hecken-Szene entrüstet aus dem Saal gerannt sein dürfte, erleben alle Anderen fantastisch inszenierte Seitenhiebe auf Minderheiten und die Konkurrenz. Lenny verplappert sich in Sachen Diskriminierung von Afroamerikanern in Gegenwart seines Kumpels Carl (“Schwarz, die schlimmste aller Farben!”), der Springfielder Pöbel wird explizit mit demjenigen aus “Frankenstein” gleichgesetzt und der Moment, in dem Kirche und Kneipe die Seiten tauschen, dürfte zu den besten und hintergründigsten Gags in der Geschichte der Gelblinge gehören. Der von Harry Shearer gesprochene “President Schwarzenegger” ist ohnehin eine Klasse für sich und den dicksten Seitenhieb muss Disney gleich zweifach einstecken, wenn Bambi und Klopfer mit der Realität konfrontiert werden und wenn ein schwarzer BH zum Einsatz kommt (“Sieh mal, ich bin das Maskottchen einer skrupellosen Trickfilm-Industrie!”). Auch Heimsender FOX hat aller Wahrscheinlichkeit wieder ein dickes Ding an den Schädel geworfen bekommen - in der deutschen Fassung wird der Gag verständlicherweise mit Pro7 durchgezogen.
Machen wir der Begeisterung ein vorläufiges Ende. Ich bin hin und weg und behaupte, besser hätte es eigentlich kaum kommen können. Die mit Abstand beste Komödie des Jahres. Groening macht die feuchten Träume eines jeden Fans wahr und schenkt uns ein selbstreflexives, subversives Zeichentrick-Meisterwerk, wie es der liebe Gott mit seinen fünf Fingern auch kaum besser hätte hinkriegen können. Was ich vermisst habe, war Hans Maulwurf und ein kurzer Besuch der Futurama-Crew per Zeitreise. Ansonsten möchte ich mit folgender Quintessenz schließen:
“Ausgezeichnet.”
Ein kurzes Nachwort zur deutschen Synchronisation: Man kann alles in allem durchaus zufrieden sein. Der Dialekt Schwarzeneggers kommt sehr schön rüber, Norbert Gastell ist als Homer absolut auf Hochtouren und Anke Engelke bringt hier ihre bisher beste Leistung als Marge - was immer das heißen mag, denn klar ist, Elisabeth Volkmann wird auf ewig unerreicht bleiben. Auch Sandra Schwittau, deren Bart in den letzten Episoden leider ein klein wenig litt, hat wieder zu alter Form gefunden. Dennoch gilt es quasi als abgesichert, dass die Original-Synchronisation mit den mir längst ans Herz gewachsenen US-Sprechern dies alles mit Leichtigkeit toppen wird, von den semantisch in vielen Fällen wesentlich schlüssigeren Gags ganz zu schweigen (Nachtrag: Und nach Sichtung der DVD kann ich das erwartungsgemäß bestätigen, wenngleich es die ein oder andere Stelle gab, die im Deutschen fast noch trefflicher war). In der vorliegenden Form sollte es deswegen eigentlich nur zur 9/10 reichen... aber verflucht, ich bin gelb, scheiß auf die Objektivität.
10/10