Review

Cyclo

Nachdem man diesem Bildertrip beigewohnt hat, ist eines klar: Saigon ist kein Platz zum Leben. Zumindest nicht für den Mitteleuropäer des sozialen Durchschnitts. Freiraum, staatliche Sicherheiten, eine funktionierende Infrastruktur – und bitte eine trockene Wohnung. So könnten einige gutbürgerliche Selbstverständlichkeiten lauten.

Der Cyclo kennt jene vielerorts geradezu prätentiösen Ideale nicht, er hat nicht mal einen Namen, sondern wird auch im Abspann schlicht durch seinen Job klassifiziert. Bei einer solchen Populationsdichte wie im Zentrum Saigons existent, sind Namen Luxus; dafür kennt man Stau, Smog, Lärm und verfallene Häuser.
Cyclo ist Rikschafahrer und kommt damit mal eben über die Runden. Eines Tages gerät er in Konflikt mit einer Bande, wird verdroschen, der Rikscha beraubt und muss nunmehr um sein Leben bangen. Mittels einer anderen Gang findet er Zuflucht in einer runtergekommenen Bude, wird von den Kleinkriminellen jedoch in Straftaten eingespannt. Zunächst durch physischem Zwang angetrieben, findet der naive Jugendliche Gefallen an dem blutigen Geschäft und gerät in eine Spirale aus manischer Obsession, Gewalt und Drogen.
Was sich unter diesem dramaturgischen Leitfaden abspielt, entwickelt sich zusehends zu einem geradezu klaustrophobischen, äußerst intensiven Bilderrausch der seinesgleichen sucht.
Regisseur Hung darf sich ohne weiteres damit rühmen ein visuelle Sinfonie aus beklemmender Authentizität und surrealen Komponenten geschaffen zu haben, welche manche eindimensionale, dem Trend nachhelchende „Videoclip-Ästhetik“ nicht nur deklassiert, sondern auch mit einem Symbolgehalt anreichert, der mehr als Worte wiegt.
Hung fängt nicht nur den generellen Alltag ein, sondern transzendiert regelrecht die Situation derer, die sich vor ihrem eigenen Abgrund befinden.

Ständig sehen wir Menschenmassen und Müll auf den Strassen, fast jedes Bild ist geradezu überfüllt, die gammeligen Behausungen sind von Dreck und Tand beschlagen; Wohlfühlen werden wir uns bei dem Anblick nicht. Das scheinbar wahnwitzige Fresko einer Stadt, die sich bis zum Ersticken zumüllt, in einem unüberschaubaren Gewusel zertrampelt wird, gibt einen deutlich intensiveren Einblick in die Schnelligkeit, Anonymität und das Chaos als so mancher Dokumentarfilm über Saigon zu zeigen imstande wäre.

Allein dafür lohnt „Cyclo“ das Anschauen, auch wenn wir frontal erdrückt werden, uns kaum auf einen Punkt konzentrieren können - Hung ist ganz nah am Puls der Innenstadt.
Er schaut tief in den brodelnden Kessel aus Sex und Gewalt, den die Staatsmacht schon lange nicht mehr kontrollieren kann.
Nehmen wir die bemerkenswerte Passage als der Cyclo einen Rikschabetrieb anzündet und vor der Polizei durch die Kanalisation flüchtet. Völlig übersät mit Exkrementen sehen wir am Ende der Flucht mehrere Sekunden sein Gesicht in Nahaufnahme, voller Kot und Maden, dabei ein wahnsinnig-heißblütiges Blitzen in den Augen, das suggeriert: „Hey, ich bin voll mit Scheiße, bring’ Leute um – endlich lebe ich!“ Was dann folgt, wird durch diese widerwärtige Einstellung schon angekündigt; der Cyclo will immer tiefer „in der Scheiße wühlen“, endlich Bandenmitglied werden.

All jene symbolträchtige Momente aufzuzählen, soll hier unterbleiben; jedoch sind sie durchweg von einer betörenden visuellen Brillanz und führen uns die Korruption der Bevölkerung durch die antihumanen Bedingungen der Slums vor Augen, in denen Gewalt und Perversion nicht nur Mittel zur Bereicherung, sondern auch dem scheinbaren Ausbruch aus der Klaustrophobie eines psychischen wie physischen Käfigs dient.
Durch traurige Lieder über das Leiden, sowie durch Gedichte, welche die resignative Lebenssicht poetisch und bildhaft darstellen, erfährt das Gesamtwerk eine zusätzliche Intensivierung und Verfizierung.
Bemerkenswert ist auch der Score: disharmonische, Klänge fügen sich symbiotisch zu den kraftvollen Bildern, schweben – in bester Hitchcock-Manier - wie ein sinistres Menetekel über sonnenverbrannte Plätze auf denen sich kommendes Unheil anbahnt.

Warum meinen hochlobenden Ansichten keine Höchstwertung folgt, ist im Grunde einfach zu erklären: Die (bisweilen) asientypische Crux, einer der kunstvollen Visualisierung folgenden Figuration sowie Dialogisierung, wird, meiner Meinung nach, auch hier nicht erreicht.
Die Motivation und individuelle Situierung der Charaktere, alles was sie bewegt, was sie separiert von den anderen, findet keine Vertiefung. Selten expektorieren die Figuren ihre Gefühlswelt, meist nehmen wir den Charakter nur durch seine direkte Handlung war.
Empathische Anknüpfungspunkte werden somit wenig geboten.
Vielleicht zeigt Hung dadurch nur den entfremdenden Konformismus Vietnams, vielleicht ist dieser regelrechte (auf den film bezogene) Asientypus nur ein Querschnitt einer durch Entindividualisierung verformten Mentalität.
Doch irgendwer muss in Betrachtung einer sich kontinuierlich vernetzenden Welt seine Kultur kritisieren können, so dass auch andere Teile der Welt nachfühlen können, was ihr sonst nur als Klischee bekannt ist. (Dafür danke ich Takeshi Kitano.)

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