Berliner Plattenbauten am östlichen Rand der Stadt - dazwischen ein Einkaufszentrum aus Glas und Stahl, daß sich wie ein Insekt zwischen die Wohntürme gesetzt hat und auch schon erste Anzeichen des Niedergangs aufweist. Hier wohnen Tausende, die mit dem "pulsierenden Großstadtleben" nichts am Hut haben und konsequenterweise kommt Berlin als Hauptstadt in Böhlichs Film gar nicht vor.
Damit reiht dieser sich in Filme wie "Sommer vorm Balkon" oder " Im Schwitzkasten" ein, die sich ebenso nur auf einen kleinen Ausschnitt konzentrierten. Ähnlich wie in den genannten Filmen, geht es Böhlich darum, zu verdeutlichen, wie das Leben in der Großstadt die Menschen prägt. Aber anders als diese zeigt er hier nicht die Berliner Bohéme, die in den von Altbauten geprägten zentralen Bezirken lebt und sich trotz Arbeitslosigkeit und knappen Geldes immer noch die Nächte in Cafés mit philosophischen Exkursen versüsst, sondern die Menschen, die man in Berlin prinzipiell gar nicht kennt und die doch den größten Teil der Bevölkerung ausmachen.
Der Titel "Du bist nicht allein" kann deshalb, je nach Betrachtungsweise, als real, zynisch oder sentimental angesehen werden. Faktisch ist in den Wohn- und Schlafstätten tatsächlich niemand allein, angesichts der tausenden Wohnungen, die hier auf engstem Raum vereint sind. Betrachtet man aber die wirkliche Lebensform und die Anonymität, in der hier der Einzelne haust, so kann man den Titel nur zynisch oder bestenfalls ironisch verstehen. Doch das ist nur die Realität, denn im Film bekommt "Du bist nicht allein" mit der Zeit eine sentimentale und menschliche Richtung, die vermittelt, daß viele Andere ebenfalls in einer schwierigen Situation sind und das es Menschen gibt, die einem beistehen. Der Betrachter begreift sofort - bei diesem Film kann es sich nur um ein Märchen handeln.
Das erkennt man schon in der ersten Szene, in der Frau Moll (Katharina Thalbach) zu dem Jobvermittler auf alle Fragen nur mit "kann ick!" reagiert. Sie bekommt den Job und läuft begeistert nach Hause. Doch ihr Mann (Axel Prahl), der sich tagsüber die Zeit mit naiven Gemälden an den Balkonwänden vertrieb, reagiert darauf mit dem gleichen Desinteresse wie sie auf seine künstlerischen Ergüsse. Wir befinden uns im achten Stock eines Wohnblocks und sind im Alltag angekommen.
In wenigen Szenen zeichnet hier Böhlich eine völlig normale Situation - die bürgerlich konventionell eingerichtete Wohnung, die jeden Freiraum für das Mobiliar ausnutzt, die Lethargie, die den langzeitarbeitslosen Herrn Moll kaum noch aus der Wohnung treibt, die Entfremdung zwischen den Ehepartnern und der dickliche Sohn, der keinen Kontakt hat und um den sich die Eltern auch in dessen Sommerferien nicht kümmern. Die hier gezeigte Situation wirkt auch deshalb so authentisch, weil sie ganz lakonisch und ohne dramatische Zuspitzungen erzählt wird. Die Wohnung ist sauber und aufgeräumt, der Umgang miteinander ist freundlich und es gibt keinerlei Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Dazu kommt das zurückhaltende natürlich wirkende Spiel der Protagonisten und man spürt ,daß sich die Menschen hier abgefunden haben - der immer gleiche Rythmus und die liebgewonnenen Gewohnheiten prägen einen Alltag, der zwar keinen wirklich glücklich macht, der aber auch nicht mehr zu Prozessen oder Veränderungen verleitet.
Diese genaue Beobachtung hebt den Film aus der Masse heraus, denn er vermittelt damit eine allgemeingültige Situation, in der sich die meisten Menschen befinden. Zusätzlich betont Böhlich das noch mit einem ehemaligen Professor (Herbert Knaupp), der in eine Nachbarwohnung in den achten Stock gezogen ist. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, aber ihm gelingt trotzdem kein Neuanfang. Seine Wohnung, die er nicht einrichtet, hat er nur gewählt, weil er von dort einen Blick auf sein Einfamilienhaus hat, in dem seine Frau noch lebt.
Wer glaubt, hier eine depressive Grossstadtsymphonie ansehen zu müssen, irrt , denn das wäre ein viel zu plakatives und extremes Gefühl, welches der hier geschilderten Normalität nicht angemessen wäre. Böhlichs Film ist dagegen unterhaltsam und von ordentlichem Tempo, zusätzlich noch angetrieben von der neu hinzugekommenen Nachbarin Jewgenia (Yekaterina Medvedeva), die gleich zu Beginn den Laden in Schwung bringt. Herr Moll, der anfangs nur unwillig beim Tragen der Möbel hilft, wird angesichts der attraktiven russischen Frau plötzlich munter...
Die Tragik liegt hier im Verborgenen. Sie zeigt sich darin, daß die Protagonisten weder ihre eigenen Empfindungen und Wünsche kennen, weil sie diese schon ewig verdrängt haben, noch das sie in der Lage sind, angemessen sozial zu reagieren. So verliebt sich Herr Moll Hals über Kopf in die neue Nachbarin, verständlich nach jahrelanger Beziehungsapathie, aber natürlich fehlt ihm das Timing im Umgang und die Sensibilität, um Jewgenias Empfindungen verstehen zu können. Diese ist als nahezu mittelloser Neuankömmling sehr froh über dessen Hilfe und zuerst auch sehr aufgeschlossen, zieht sich aber immer weiter zurück, als sie merkt, daß Herr Moll ihr Verhalten überbewertet.
Ähnlich verquer ist die Situation zwischen dem Ehepaar Moll. Aufgedreht nach einer langen Party bei Jewgenia läuft er durch die Straßen und begegnet dabei zufällig seiner Frau, die diese Situation missversteht und glaubt, ihr Mann will sie nach der Arbeit abholen. Böhlich beweist bei diesen Szenen ein sehr gutes Timing, indem er zwar die Tragik dahinter verdeutlicht, aber sie niemals zur Unerträglichkeit auswalzt, was auch dem sehr guten Spiel Axel Prahls zu verdanken ist, der genau und nachvollziehbar agiert.
Vorwerfen kann man dem Film nur, daß er seinem überzeugenden Timing selbst nicht ganz traut. So mischt Böhlisch das Geschehen gelegentlich mit Szenen, die in ihrer Art übertrieben wirken - wie etwa Herbert Knaupps Ausraster auf dem Arbeitsamt, der "erotischen" Synchronisation eines Werbetextes durch seine Frau oder Katharina Thalbach , die bei ihrer Notdurft von einer Ente gestört wird. Vielleicht ahnte Böhnisch schon, daß man seinem "realistischen Märchen" zu viel deutschen Alltag vorwerfen würde, weshalb er diese Auflockerungen wählte. Aber leider spielt er gerade damit seinen Kritikern zu und verwässert sein Konzept.
Trotzdem bleibt der gute Gesamteindruck erhalten, der sich ein versöhnliches und damit "märchenhaftes" Ende leistet. Denn anders als es in der hier gezeigten Realität in der Regel passieren würde, läßt er seine Protagonisten zum Schluß irrational handeln und den Weg des Konsenses suchen und damit etwas in Bewegung bringen, was normalerweise am wenigsten funktioniert - den Willen zur Veränderung.
Fazit: "Du bist nicht allein" ist ein sehr genau beobachtendes Werk, daß sich dem deutschen Alltag in seiner grauesten Form widmet und damit vordergründig nicht für einen Kinoabend anbietet. Tatsächlich agieren hier alle Darsteller so natürlich und ist Böhnischs Inszenierung so schwungvoll, daß der Film trotz der ständig unter der Oberfläche zu spürenden Tragik, gut unterhalten kann.
Leicht wird es dem Betrachter dabei nicht gemacht, denn Böhnisch widmet sich einem Thema, welches fast Jeden etwas angeht - der Lethargie und der Bewegungslosigkeit in einem scheinbar funktionierenden Umfeld und der Verlust der Kenntnis der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Indem er seine Protagonisten zum Schluß aus diesem Schema ausbrechen lässt, macht er Mut, aber gleichzeitig wird man auch als Betrachter mit seiner eigenen Situation konfrontiert. Sehenswerter Film, der trotz kleinerer Schwächen überzeugen kann (7/10).