Review

Schon zwischen 1911 und 1912 entstand Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“, in der er sich im Gegensatz zum Film mit einem Schrifsteller beschäftigte. In der Verfilmung 1971, die Luchino Visconti leitete, geht es um einen undurchsichtigen Komponisten. Dieser macht sich nach Venedig auf, offenbar um dort schöpferisch tätig zu werden. Man merkt ihm jedoch von Anfang an an, dass er die Freude am Leben verloren hat. Professor Gustav von Aschenbach (Dirk Bogarde) – das merkt man früh – spürt den Drang, sich von der Welt abzukapseln, kann sich nicht mit ihr identifizieren. Dirk Bogarde verkörpert diese Rolle nach meiner Meinung mit Perfektion. Eine sagenhafte Vorstellung.

Mein Eindruck verstärkte sich durch die intellektuellen Gespräche, die Gustav - der übrigens dem Musiker Gustav Mahler nachempfunden ist (von diesem stammt auch die Musik aus dem Film) - mit seinem scheinbar einzigen Freund Alfred führte. Hier ging es einmal um Schönheit. Von Aschenbach ist dabei der Überzeugung, dass sie ein geistiges Konstrukt ist, Alfred dagegen betont die Bedeutung der Sinne in diesem Zusammenhang. Gustavs Weltentfremdung zieht sich durch den gesamten Film. Selten nimmt er Kontakt mit anderen Menschen auf, eigentlich nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Stattdessen zieht er sich regelmäßig in die Einsamkeit zurück und beobachtet. Dabei läuft ihm der junge Tadzio über den Weg, der mit seiner Familie das gleiche Hotel besucht. Von Aschenbach ist von der Schönheit des Knaben geblendet und verliebt sich in ihn. Zunächst ist ihm bewusst, dass das nicht sein darf und er will spontan aus Venedig abreisen. Bei dieser Entscheidung unterstützt ihn die Tatsache, dass Venedig von der Cholera heimgesucht wird. Abreisebereit muss er jedoch erfahren, dass sein Gepäck an den falschen Ort verschickt wurde. Das ist ein Wendepunkt im Film: Statt trotzdem nach München zu reisen, denn dort will er hin, hält er es für die beste Entscheidung, in Venedig zu bleiben. Dabei erkennt man ein Lächeln auf seinem Gesicht, offenbar hat ihn die Sehnsucht nach Tadzio dazu getrieben.

Ein Wendepunkt ist diese Stelle deswegen, weil Gustav von nun an vollständig seinen Bezug zur Welt zu verlieren scheint. Tadzio ist das Einzige, was ihn am Leben hält, wohin das führen soll, weiß kein Mensch. Sein bloßer Anblick stellt ihn aber zufrieden und führt dazu, dass er ihm auf Schritt und Tritt nachfolgt, ohne erkennbares Ziel. Anfassen würde er ihn offenbar sehr gerne, dazu kommt es aber nie. Folgerichtig erfasst ihn dabei die Krankheit, die ihn Venedig umhergeht und seine Gesundheit geht zu Grunde. Gegen Ende verwandelt er sich immer mehr in ein uralt erscheinendes Wrack, das kaum zu selbstständigem Leben fähig ist.

Visconti gelingt es, eine faszinierende und gleichzeitig beängstigende Charakterstudie zu zeichnen. Natürlich hat Thomas Mann gute Vorarbeit geleistet, aber die filmische Umsetzung ist kein Selbstläufer. Auffällig sind die endlosen Kamerafahrten, die Visconti nutzt. Teilweise haben sie beinahe unerträgliche Länge, es handelt sich aber um ein angebrachtes Stilmittel, das dem Zuschauer die Rolle des Gustav verdeutlicht: Aus der Welt zurückgezogen, beruft er sich auf die passive Beobachterrolle. Gleiches tut die Kamera. Sie lässt den Blick schweifen und erstellt so ihr Bild von der Welt. Diese Fahrten erstrecken sich häufig auf viele Minuten, die wenig Inhalt bieten. Meine Lieblingsszene ist die, als Gustav in der Mitte des Films im Außenrestaurant des Hotels sitzt. Tadzio ist wie üblich nicht weit von ihm entfernt. Eine kleine Band spielt ihre fröhlichen Liedlichen, die man sich genussvoll anhören kann. Gustav beobachtet das Ganze, ohne die Miene dabei zu verziehen. Erst, als das Geschehen ein Ende findet und der Sänger nur noch ein paar Lire für seine Vorstellung absahnen will, greift er aktiv in die Welt ein, weil er wissen will, was es mit der Epidemie in Venedig auf sich hat. Das ist einer der sehr wenigen Dialoge im Film. Die meiste Zeit wird nicht gesprochen.

Der eine offensichtliche Charakterzug des Gustav ist die Weltfremde, die ich jetzt ausgeführt habe. Der andere ist der weniger offensichtliche Selbstzerstörungstrieb. Das zeigt sich erst in der Mitte des Werkes: Zuerst scheint Gustav noch schöpferisch werden zu wollen und interessiert sich ernsthaft für die Bedrohung in Venedig. Nach der gescheiterten Abreise allerdings stört ihn die Bedrohung nicht mehr. Dazu kommt das ständige Verfolgen seines angebeteten Tadzio. Mir als ergebenem Zuschauer kam es vor, als wüsste er, dass diese Triebe in Bezug auf einen Jungen keine Zukunft haben können. Er findet sich damit ab und findet sich zudem damit ab, dass er sich durch seine Passion der Krankheit intensiv aussetzt. Er findet sich also auf gewisse Weise mit seinem Zugrundegehen ab.

Visconti setzt diesen Gedanken eindrucksvoll um. Das Mitleid des Zuschauers mit dem erbärmlichen Gustav von Aschenbach lässt sich nicht vermeiden, man möchte ihn in die Arme nehmen und aus Venedig zerren. Diese Darstellung gipfelt in der Frisöraktion. Nur für seinen Tadzio legt Gustav plötzlich Wert auf sein Äußeres, als ob ihn das in irgendeiner Form näher an diesen heranbringen könnte. Sogar Lippenstift lässt er sich zu diesem Zwecke auftragen. Das tragische Ende ist sehr ergreifend, wenn auch vorhersehbar.

Nachteilig sehe ich an „Tod in Venedig“, dass die erwähnten Kamerafahrten den Bogen etwas überspannen. Weniger ausführliche Darstellung hätte den gleichen Zweck beim Zuschauer erreicht, ohne ihn gelegentlich zu langweilen. Unpassend fand ich außerdem, dass sich Gustav und Tadzio mit überzufälliger Häufigkeit über den Weg laufen. Möglicherweise verstärkt das aber zurecht den Eindruck, dass sich Von Aschenbachs Welt nur noch um den Jungen dreht. Etwas Anderes sieht er nicht mehr.

Fazit: Ein ergreifender Film, der die beeindruckende Geschichte eines armen Professors erzählt, der in seiner eigenen Welt lebt, mit seinem Leben unzufrieden ist und sich zu allem Übel in Venedig in einen kleinen Jungen verliebt. Das richtet ihn im Endeffekt zu Grunde. Geduldig erzählt, greift „Tod in Venedig“ die Empathie des Zuschauers vehement an und zeigt dabei wenige Schwächen. Ich möchte 8 Punkte vergeben. Euer
Don

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