Wenn man eine Produktionsleiche aus ihrer Gruft zerrt und in einen extrem erfolgreichen Blockbuster umsetzt, mit der Fortsetzung das Niveau noch steigert und sowieso der Liebling der Fans und Kritiker ist, ja, dann kann man sich entspannt ans Werk machen, wenn der dritte Teil von „Spider-Man“ ins Haus steht.
Sam Raimi hat mit seiner Vision der Netzschwingerfilme alles erreicht, seine ungezügelte Liebe zu den alten Bilderheftchen war er kongenial auf die Leinwand zu übertragen imstande. Er war Chronist von Spider-Mans Geburt, Peters privaten Problemen und der Machenschaften der Superschurken. Und nun ist es an der Zeit, selbstbewusst mit beiden Händen in die bunte Vorlagentüte zu greifen und alles aufzufahren, was der Fan sich wünscht.
„Spider-Man 3“: Düsterer, länger, ergreifender. Besser?
Das Material, mit dem der dritte Film aufwartet, erschlägt zunächst förmlich.
Da muss zuerst die Beziehung von Peter und MJ weitergeführt werden. Geht das gut, mit ihrer harten Künstlerkarriere und seinem kostümierten Doppelleben? Wie ist es um das komplizierte Verhältnis der Jugendfreunde Peter und Harry bestellt? Geht DAS gut, bei Harrys Hass auf den vermeintlichen Mörder seines Vaters? Ist Peters Stellung beim Bugle noch sicher, jetzt, wo der ambitionierte Eddie Brock ihm den Posten streitig macht? Welche Probleme wird Spider-Man mit dem verzweifelten Kleinganoven Flint Marko bekommen, der durch ein geheimes Experiment zur lebenden Wanderdüne mutiert ist? Was hat es mit der geheimnisvollen Substanz auf sich, die aus dem Weltraum zur Erde fiel und sich in Peters Schlafzimmer verkrochen hat? Und hat Peter bei all der Aufregung in seinem Leben je die Zeit gefunden, den Verlust seines geliebten Onkels wirklich zu verarbeiten? Ein Verlust, für den er sich immerhin selbst die Schuld gibt.
Keine Frage, an dieser inhaltlichen Fülle würde so mancher Regisseur scheitern, dramaturgisch in die Knie gehen, falsch gewichten, es wäre keine Schande.
Doch nicht Raimi.
Er hat Peter Parkers Leben verinnerlicht wie kein zweiter, hat die moralischen Essenzen herausdestilliert und in seinem ureigenen, dynamischen Stil aufbereitet. Seine „Spider-Man“-Filme sind moderne Märchen, so wie die vierfarbigen Vorlagen moderne Märchen sind. Und bei diesem Verständnis für die Figuren verwundert es nicht, dass er mit der zu verarbeitenden Handlung meisterhaft umzugehen versteht. Lange Gespräche Peters mit seiner Tante, mit Harry, mit MJ, der Film nimmt sich ausgiebig Zeit hierfür, auch und weil es unabdingbarer Bestandteil der Comics ist. Die Chuzpe, die Actionszenen hintenan zu stellen, teilweise nur wie eine Dreingabe zu inszenieren (hierbei denke man nur an das hastig zusammengeschusterte Bündnis der beiden Superschurken), hätten andere Regisseure nicht gehabt, da bin ich mir sicher. Umso dankbarer bin ich Raimi, dass er den frühen Kritiken aus den Testvorführungen, der Film biete zu wenig Action, miss- und seinem eigenen Gefühl vertraut hat. Denn nur so vermeidet der Film die Oberflächlichkeiten, die viele seiner Blockbusterkollegen plagen. Darüberhinaus liefert der Film immer noch reichlich Krawumms, und dank zwei bzw. drei Superschurken auch erstmals die aus den Comics bekannte Rudelbildung der Bösewichte (im Comic gab es da zum Beispiel die „Sinistren Sechs“, mit denen sich der Wandkrabbler gleichzeitig abmühen musste). Die oft befürchtete Überfrachtung des Films bleibt also auch hier aus, was zwar nicht immer mit der Vorlage konform, aber immer dramaturgisch sicher gelöst abgeht.
Zum Drehbuch: Ich bin erstaunt, wie selbstverständlich hier das Bündeln unzähliger Hefte gelingt.
Immerhin ist Sandman eine Figur der Sechziger und Venom eine der Neunziger, Gwen die ursprüngliche Jugendliebe Peters und Harrys schleichender Wahnsinn zog sich jahrzehntelang durch die Geschichten. Die Gefahr, in Unstimmigkeiten abzugleiten ist da nur halb so groß wie die Gefahr, eingefleischte Fans zu verärgern. Aber da man es sowieso nicht allen recht machen kann, tat Raimi gut daran, auf sein Gespür und seine Co-Autoren zu setzen. Gemeinsam mit seiner Frau Ivan und Autor Alvin Sargent ist ihm das Kunstück gelungen, selbst eine Figur wie Gwen Stacy, die mit nur wenig Screentime ausgestattet ist, in einen glaubhaften, und, das dürfte für die meisten Fans enorm wichtig sein, moralisch integren Charakter zu verwandeln. Gwen wird nicht als Catfight verheizt.
Zudem macht sich Raimi die Tatsache zunutze, dass der Mord an Onkel Ben im ersten Teil offscreen geschah, weswegen die nachhaltige Einbindung Markos nahtlos funktioniert. Comicfans mögen da die Nase rümpfen (bin ja selbst einer), aber Raimi folgt hier schlicht den filmischen Regeln einer Trilogie und schlägt einen stimmigen Bogen an den Anfang, welcher es Peter erlaubt, sich mit seinen verdrängten Gefühlen auseinander zu setzen und einen Schlussstrich zu ziehen. Die finale Szene zwischen ihm und Sandman gerät so zu einem fantastischen Augenblick puren Kinos, weil hier auf beeindruckende Weise die Entwicklung einer Figur, die wir drei Filme lang verfolgten, aufgelöst wird. Und dies ist nur einer von vielen berührenden Momenten. Marvels Konzept der „menschlichen“ Helden findet hier seine mustergültige filmische Entsprechung, die Coming-of-age-Trilogie ist (form-)vollendet.
Sicher, bei aller Menschelei soll nicht vergessen werden, dass dies ein Comicspektakel ist, und auch in dieser Kategorie gibt sich der Film keine Blöße.
Da plumpst so unvermittelt ein Alien-Meteorit vom Himmel, als wolle Raimi sich für eine Neuauflage des „Blob“ empfehlen, da gerät ein kleiner Dieb ohne große Fährnisse in ein streng geheimes Molekularexperiment und wird verquarzt, da baumelt auch schon mal ein Bagger zwischen Wolkenkratzern. Das Tempo der Actionszenen ist enorm, die Übergänge zwischen computergenerierten Gestalten und den Schauspielern nahtlos, die visuellen Einfälle erfrischend. Und wenn sich auf den Bürgersteigen New Yorks mal wieder ausschließlich Models zu tummeln scheinen, ist man mittendrin in Raimis bunter Bilderwelt. Aber wer hat von einem Blockbuster dieser Größenordnung anderes erwartet?
Musikalisch schienen da schon eher Bedenken angebracht. Und damit meine ich nicht das Fehlen von engagierten Straßenmusikanten wie in den Vorgängerfilmen, sondern die Abwesenheit von Danny Elfman, der Peters unter Hochspannung stehendes Leben stets in einen kribbligen Score umzusetzen wusste. Doch, Entwarnung, sein Nachfolger Christopher Young versteht es, den wehmütig-rührseligen Charakter des Films einzufangen, und so geraten Szenen wie die „Geburt“ Sandmans umso beeindruckender.
Auch die Schauspieler bieten keinen Anlass zur Kritik, Tobey Maguire und Kirsten Dunst beherrschen ihre Charaktere mittlerweile im Schlaf, wobei gerade Maguire in seinen „Macho-Szenen“ punktgenau den Ton trifft, der uns Peter Parker mit all seinen Schwächen so nahe bringt. James Franco, der mir in den Vorgängerfilmen schon sehr gefiel, dreht nun vollends auf und liefert eine Spitzenperformance als hin- und hergerissener Osborn Junior. Hier zeigt sich endgültig, dass die Freundschaft zwischen Peter und Harry neben der Peter/MJ-Beziehung immer ein gleichberechtigter Stützpfeiler der Handlung war.
Thomas Haden Church und Topher Grace fügen sich mit ihren charismatischen Schurken wunderbar ins Gesamtbild ein und setzen die Spidey-Tradition gut aufgebauter und mit Motivation ausgestatteter Bösewichte fort, ohne Raimis Sinn für Comic-Augenzwinkern zu missen. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den Teil des Symbionten, welcher Eddie permanent eine Augenbraue hochzieht…
Und auch wenn die Nebenfiguren nur jeweils kurze Spielzeit erhalten; Sie sind alle versammelt, sie sind alle Puzzlestücke, sie sind alle wichtig. Der Film balanciert sein Personal mit lockerer Hand durch seinen an Höhepunkten nicht armen Plot, ohne jemanden zu kurz kommen zu lassen, sogar Cliff Robertson und Willem Dafoe absolvieren erneut Gastauftritte als Onkel Ben bzw. Norman Osborn, was dem Ganzen eine wundervolle Geschlossenheit verleiht. Und dass Raimi seinen Spezi Campbell und Mastermind Stan Lee erneut unterzubringen versteht; Ehrensache.
Fazit: Durch geschickte Balance zwischen Melodramatik und düsterer Action gerät auch „Spider-Man 3“ zum Comicspektakel der Extraklasse, welches seinen überfrachtet anmutenden Plot zu jeder Zeit souverän in fesselndes Kino umzusetzen weiß. Diese Leistung ist nicht selbstverständlich, ein dickes Lob daher an den Comicfan hinter der Kamera, Sam Raimi, der seinen Kindheitstraum mit uns teilt und dem modernen Film einen Blockbuster mit Seele schenkt.