Eva Mendes in einer Hauptrolle - allein das ist schon für viele Männer Grund genug, „Live!" bei günstiger Gelegenheit zu sichten. Und zugegeben, sie ist ohne Zweifel eine der schönsten Frauen, die Hollywood zu bieten hat. Doch das makellose Aussehen eines weiblichen Stars ändert nichts an der hier oft abgelieferten mangelnden Qualität der filmischen Ware. Befürchtet doch so mancher Fan anspruchsvoller Produktionen, dass ein Film, der mit einer Latinoschönheit in der Hauptrolle aufwartet, womöglich über Unzulänglichkeiten anderer Art hinwegtäuschen möchte. Und sicherlich ist dieses Vorurteil nicht ganz unbegründet; man siehe nur die neuesten Streiche der Namensvetterin Mendes', Eva Longoria. Doch erfrischender Weise straft Bill Guttentags „Live!" die - berechtigte - Voreingenommenheit vieler Filmfreunde Lügen.
Eva Mendes schlüpft hier in die Rolle der Fernsehintendantin Katy, die die miserablen Quoten ihres Senders - des fiktiven ABN - mit unkonventionellen Methoden wieder auf Vordermann bringen möchte. Sie wirbt bei den Programmdirektoren für ihr neues Konzept einer Liveshow, das vorsieht, den (freiwilligen) Kandidaten der Sendung 5 Millionen Dollar auszuzahlen, sofern diese sich bereit erklären, vor aller Welt Russisch Roulette zu spielen. Eine makabere Idee, die zunächst auf viel Widerstand stößt. Doch die geniale Marketingstrategie Katys und der damit verbundene Geldsegen perforieren die Verweigerungshaltung der Fernsehbosse, die natürlich nicht aus ethisch-moralischen, sondern aus imagetechnischen Gründen vor einer solchen Show zurückschrecken. Nach einer Stunde Film ist es dann so weit und die Show beginnt. Doch was man in den ersten sechzig Minuten des eineinhalbstündigen „Live!" geboten bekommt, ist das eigentlich Zentrale Guttentags Werks - eine Parabel auf die Pseudomoral der westlichen Fernsehlandschaft und eine ätzende Kritik an der stupiden Sensationslust des gewöhnlichen Fernsehzuschauers.
Strippenzieherin Katy darf sich zu Beginn des Films auf ihrer Suche nach vermarktbarem Kontroversem Format-Ideen wie die „Sperma Jagd" anhören. Dort würden „echt coole Männer darum kämpfen, ein paar der heißesten Frauen befruchten zu können. Und wenn dann noch zwei übrig sind, wird ihr Sperma eingefärbt, die Vaginalkamera eingesetzt und das Ganze gefilmt." Lassen solche Programmvorschläge bereits den gehörigen Schuss Ironie und Persiflage erahnen, der „Live!" durchtränkt, so wird der geneigte Zuschauer auch im weiteren Verlauf des Films auf burleske Weise unterhalten, der es allerdings nie an Niveau fehlt. Slapstick und Hauruckhumor bietet Guttentags Film nicht. Müssen nämlich die „Nippel" einer Kandidatin auf Geheiß Katys zensiert werden, weil das den für das Fernsehen verantwortlichen Sittenwächtern zu viel des Schlechten wäre, darf sich dieselbe Kandidatin live eine Kugel in den Kopf schießen. Eine entlarvende, intelligente Szene, die programmatisch für den gesamten Film ist! Wenn dann noch dem Vorstand des Senders ob der rührenden Familiengeschichte eines der Kandidaten die Tränen über die Wangen kullern, dann ist die Karikatur perfekt und die medienkritische Breitseite im Ziel.
„Live!" ist kein lieblos zusammengebastelter Versuch, mit einem prekären aktuellen Problem, nämlich der Wertverlustigkeit der (privaten) Fernsehkanäle, ein paar Dollar zu verdienen. Bill Guttentag dringt tief in die Thematik ein und übergießt - trotz aller lustigen Persiflage - die TV-Medienlandschaft mit tiefsinniger, ehrlicher Kritik. Er prangert hierbei nicht nur plakativ Missstände an, sondern wagt sich überraschend unorthodox auf heiß umkämpftes Terrain, indem er subtil der Frage nachgeht, welche Ursachen das in der westlichen Welt omnipräsente Zerschlagen sittlicher Werte hat. Einerseits macht er völlig zu Recht die Sensationslust des Menschen als eine Ursache der thematisierten Misere aus. Doch belässt es Guttentag nicht bei dieser vordergründigen und uns allen selbstverständlichen Diagnose. Als Katy im Büro des Senderjuristen (Andre Braugher) im Schrank herumkramt und ein Woodstockticket hervorzieht, bietet dieser Fund den beiden Anlass, die durch die 68er gewonnen Freiheiten zu preisen. „Neue Freiheiten", heißt es, „müsse man sich (auch gegen TV-Bosse und Medienzensur) erkämpfen". Hier wird eine Kontinuität aufgedeckt, die tatsächlich existiert. Dieselben Menschen, die in den 60ern und 70ern alle Werte und Regeln des gesitteten Zusammenlebens in Frage stellten beziehungsweise in geistloser Egomanie zu zerstören suchten - so gerechtfertigt manche Kritik an den bestehenden Verhältnissen durchaus war -, wundern sich heute an den Hochschulen oder im eigenen Lehrerzimmer über eine zunehmende Rücksichtslosigkeit und Selbstbezogenheit der Jugend, deren Wesen sich im zeitgenössischen Fernsehen widerspiegelt. Und genau diesen wunden Punkt greift Guttentag in seinem Film auf, wenn auch zu subtil, um damit Aufsehen zu erregen. Tatsächlich wäre das heutige private TV-Programm - in den USA wie hier - in einer wertorientierten Gesellschaft kaum denkbar. Da bekommen hier bei uns im Tagesprogramm allerlei Pseudostars und -sternchen Behälter mit Spinnen vor einem Millionenpublikum über den Kopf gekippt, da werden junge Menschen mit Geltungsdrang von einem faltigen Aushilfsmusiker für ihre Nullleistungen sensationshäscherisch in aller Öffentlichkeit beleidigt und abserviert, und da berichten Talkshowgäste im Nachmittagsfernsehen stundenlang von ihren sexuellen Vorlieben. Die deutsche Fernsehlandschaft unterscheidet sich hier nicht von der der USA. Guttentag stellt untertänig die Frage, welche Menschen sich diesen unglaublichen Unsinn ansehen. Nämlich zum großen Teil dieselben Leute, die aufgrund ihrer Anfälligkeit für Sinn- und Geschmackloses - unter einer anderen Gesetzeslage - jede noch so unanständig und sensationslüstern geartete Sendung konsumieren würden. Das Alte Rom lässt grüßen! Anstand ist obsolet. Hipp ist, wer sich über Regeln und Traditionen hinwegsetzt. Die Früchte dieser egoistischen Spaßgesellschaft werden wir in einer Zeit ernten, in der ihre Initiatoren Greise sind.
Wenn Jay Hernandez diesmal nicht in der Slowakei gelangweilten, neureichen Psychopathen von der Klinge hüpft (Hostel), sondern sich schließlich als in seinem Viertel malträtierter, homosexueller Latino die Waffe an die Schläfe drückt, dann stockt der Atem. Ist die Kammer der 357er Magnum leer oder geladen? Die letzten dreißig Minuten bieten leider nicht mehr den Tiefsinn der Darstellung des Auftaktes, doch vermag „Live!" auch hier - wenn auch nur routiniert - zu unterhalten. Die eine oder andere inszenatorische Holperigkeit hätte durch mehr Feingefühl vermieden werden können, doch wollte der Regisseur wohl sicherstellen, dass auch jene Teile des Publikums den Film unterhaltsam finden, die nicht an der Subtilität des hier präsentierten Stoffes interessiert sind. Diese Rechnung geht jedoch nicht ganz auf, denn auch der die potentiellen Delinquenten vorstellende Ansager, welcher in seiner Prosodie an Schwarzeneggers „Running Man" erinnert, vermag es nicht, den hier an - womöglich - hartem Tobak interessierten Zuschauer zu unterhalten. Der Hintergrund und Kontext des Filmes beziehungsweise seine geschickt portraitierten Verflechtungen mit unser aller Alltag sollen hier abstoßen, nicht die explizit gezeigte Gewalt, denn die ist praktisch nicht vorhanden. Guttentag will vornehmlich eine massenmedienkritische Botschaft vermitteln; die Kopfschussszenerie ist allenfalls Mittel zum Zweck. Die Bizarrerie großer Bereiche unserer Medienlandschaft wird entlarvt als das, was sie ist: ein schmutziges Abbild vieler Menschen, das anthropologisch und, nicht zu vergessen, historisch bedingt ist.
Hätte „Live!" den einen oder anderen inszenatorischen Akzent mehr vorzuweisen, und hätte die eine oder andere Szene mehr Potential, sich im Kopf des Zuschauers dauerhaft festzusetzen, so erhielte die intelligente Gesellschaftskritik Guttentags ein adäquates Vehikel, um filmhistorisch aus der Flut der Veröffentlichungen herauszuragen. Auch das inzwischen oft gesehene filmische Mittel der das Geschehen pseudoauthentisch dokumentierenden und Katy auf Schritt und Tritt folgenden Kamera verleiht dem Film keine Innovation. Doch bleibt summa summarum letztendlich eine solide, gut gemachte, geistreiche Persiflage, die ihr Zielpublikum allerdings erst noch suchen und finden muss.