Es ist eine eigene Welt in dem Bostoner Stadtteil und Patrick Kenzie (Casey Affleck) wirkt mit seinem jugendlich glatten Gesicht und der gepflegten Kleidung wie ein Fremdkörper zwischen den drogenabhängigen, arbeitslosen, fetten und tätowierten Gestalten, die hier die Strassen und heruntergekommenen Gebäude bevölkern. Tatsächlich hat er eine gemeinsame Geschichte mit Einigen ,die hier leben, denn er ist mit ihnen in die Highschool gegangen und verfügt dadurch noch über einige Kontakte.
Deshalb wurden er und seine Partnerin Angie Gennaro (Michelle Monaghan) als Privatdetektive beauftragt, die kleine Amanda zu suchen, die aus der Wohnung ihrer Mutter entführt wurde. Obwohl sich Patrick selbstbewusst bewegt und auch alte Kumpels wieder trifft, stösst er auf Ablehnung, denn den Meisten passt seine Art nicht - er gehört hier nicht hin.
Casey Affleck ist nicht nur Regisseur Ben Afflecks kleiner Bruder, sondern ideal besetzt. Seine jungenhaft optimistische, wenig charismatische Art vermittelt sofort die Provokation für die hier lebenden Menschen, aber gleichzeitig nimmt man ihm das Interesse und Engagement an dem Fall ab und sein Durchsetzungsvermögen auch in kritischen Situationen. Ähnliches lässt sich von Michelle Monaghan sagen, deren Wandelbarkeit überrascht. Sie spielt hier stark zurückgenommen und wirkt oft wie ein Side-Kick zu dem aktiven Affleck, um dann mit sehr klaren Haltungen und Entscheidungen zu überraschen.
Im ersten Moment wirkt es fast anachronistisch, als die Mutter des entführten Mädchens, Helene McCready (Amy Ryan), die zurückhaltende Angie als arrogant bezeichnet, aber es wird schnell deutlich, was sie damit meint. Menschen ,wie Helene und ihre Freunde, haben keinerlei Erwartungshaltung mehr an den Staat und das Leben. Sie hurt herum, kokst und arbeitet manchmal als Drogenkurier, weshalb sie ihre Tochter notorisch vernachlässigt. Wie sich schnell herausstellt, hatte sie Amanda wieder einmal stundenlang allein gelassen, weswegen es letztendlich nicht überrascht, dass man sie entführen konnte. Selbst ihre theatralische Verzweiflung, die sie vor den unzähligen Kameras vorspielt, wirkt wenig überzeugend. Die gelassen, ernsthafte Angie wird automatisch zu einer Provokation.
Ben Affleck, der selbst in dieser Umgebung aufgewachsen ist, zeichnet hier ein Bild allgemeinen Verfalls, indem nur die Sucht nach dem schnellen Kick noch etwas zählt und Gewalt an der Tagesordnung ist. Ein Kind, dass in dieser Umgebung aufwächst, hat im Grunde keine Chance, weswegen man auch der kleinen Amanda kaum noch Überlebenschancen gibt, nachdem sie schon drei Tage verschwunden ist. Schnell haben die zwei Detectivs Remy Bressant (Ed Harris) und Nick Poole (John Ashton) , die mit Patrick und Angie zusammen arbeiten, Verdächtige bei der Hand, bei denen es sich um Drogensüchtige und einen gesuchten Pädophilen handelt.
Die Stärke des Films liegt darin, die Menschen in diesem Stadtteil nicht zu verteufeln, obwohl Ben Affleck dem Zuschauer nichts erspart. Doch um so mehr Patrick in das Innere dieser Welt eindringt, desto mehr wird er auch ein Teil von ihr und man erkennt innerhalb des ganzen Mülls auch Qualitäten. Sehr stark ist die Szene mit Amandas Mutter, in der sie glaubhaft vermittelt, dass sie ihre Tochter liebt und zurückhaben will, genauso wie die Kerle in Wirklichkeit keineswegs so hart sind wie sie vorgeben, sondern wie etwa Cheese (Edi Gathegi), der Drogendealer, selbst zum Opfer werden. Durch diese Komplexität gibt Affleck dem Zuschauer keine klaren Tendenzen vor, sondern zwingt ihn dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden, die vor allem in den sehr starken letzten 15 Minuten des Films zu einer beeindruckenden Auseinandersetzung führt.
Leider kann "Gone Baby Gone" diese starke Linie nicht durchgängig aufrecht erhalten, setzt zunehmend auf klassische Suspense und ersetzt die innere Komplexität durch eine überladene Kriminalstory. Das entspricht zwar der literarischen Vorlage, lenkt aber zunehmend vom eigentlichen Thema ab. Besonders die dramatischen Szenen, in denen Patrick den gesuchten Pädophilen entdeckt, die Selbstjustiz oder das offizielle Polizeibegräbnis wirken einerseits unnötig im Gesamtkontext und werden andererseits in ihrer deutlichen Symbolhaftigkeit verschenkt. Auch die Stärke von Ed Harris oder Morgan Freeman als Polizei-Captain kommen erst wirklich in den letzten Minuten des Films, die wieder das eigentliche Thema aufnehmen, zum Tragen.
Fazit : Ben Affleck gelingt mit "Gone Baby Gone" ein erstaunliches Debut, das ein schwieriges Thema komplex und vielschichtig angeht und den Betrachter dazu zwingt, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Die verschachtelte Kriminalstory, in der ständig der äussere Anschein trügt , kann zwar den Spannungsgehalt erhöhen und trägt sicherlich gemeinsam mit einigen Actionsequenzen zur Unterhaltung bei, lässt den Film aber in der zweiten Hälfte etwas überladen wirken. Ein wenig scheitert Ben Affleck am Versuch der Vielschichtigkeit, was aber die beeindruckende Wirkung nicht verpuffen lässt (7,5/10).