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Vier Jahre nach der ersten Teilung Polens durch Preußen, Österreich und Russland im Jahre 1772 brodelt in den zaristisch besetzten Gebieten des ehemaligen Großreiches der Aufstand. Namentlich sind es der junge Adlige Boleslas Vorowski und seine Schwester Sophie, die für die von den russischen Besatzern geschundene Bevölkerung zu Symbolen des kommenden Aufstands werden. Während sie in dem von ihren Eltern geerbten Landsitz bei jeder sich bietenden  Gelegenheit heimlich nationalistische Treffen abhalten, bei denen Boleslas den Widerstand gegenüber der Zarin Katharina beschwört und die ihren Höhepunkt stets darin finden, dass seine Schwester auf dem Flügel die polnische Nationalhymne anstimmt, die dann von allen Anwesenden aus vollen Kehlen und mit Tränen der Rührungen mitgesungen wird, hat sich der greise Baron von Kempelen, seines Zeichens Ziehvater von Boleslas und Sophie, in seine eigene vier Wänden zurückgezogen, Politik und Gesellschaft den Rücken zugewandt und arbeitet an Erfindungen, wegen denen ihm der abergläubische Teil des Volkes den Nimbus eines Zauberers und Schwarzkünstlers verliehen hat. Es sind Automatenmenschen, in die der Baron seine Zeit und seine Mühe steckt, lebende Puppen, mit denen er sein Haus von oben bis unten ausstaffierte, darunter Ebenbilder aller erdenklicher Menschentypen, von singenden, lautenspielenden Mädchen über seinen eigenen Doppelgänger bis hin zu einer naturgetreuen Kopie jener alten Dame, die vor Jahrzehnten voraussagte, dass Sophie einst maßgeblich daran beteiligt sein würde, ihr unterjochtes Volk in die Freiheit zu führen. Die indes ist zurzeit eher mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, die auf den russischen Prinzen Oblomoff zielen, trotz seiner Herkunft gut mit Boleslas befreundet, weshalb die schwierigen politischen Umstände zunächst nicht zwischen den Liebenden zu stehen scheinen. Alles ändert sich am Tag von Sophies Geburtstagfest. Während das Mädchen ein rauschendes Fest feiert, bei dem auch Baron von Kempelen nicht länger ihre Zuneigung zu Oblomoff verborgen bleibt, wird Boleslas in der Stadt Zeuge einer Tat, die er nicht ungesühnt lassen kann: ein russischer Soldat zieht das Andenken seiner Schwester in den Schmutz, indem er eine der Fahnen, auf die ihr Antlitz gestickt wurde, in den Straßenstaub schleudert. In der kommenden Auseinandersetzung lässt sich das polnische Aufbegehren nicht länger unterdrücken. Aus der Auseinandersetzung zwischen Boleslas und dem Russen entwickelt sich eine regelrechte Straßenschlacht, die die übrigen Polen als Startschuss für die von langer Hand geplante Revolution auffassen. Boleslas, nach Hause zurückgekehrt, zieht erste Konsequenzen aus den Entwicklungen des Abends. Nachdem er Oblomoff sowohl die Freundschaft gekündigt als ihm auch untersagt hat, weiterhin um Sophies Hand anzuhalten, trifft er Vorbereitungen für den bewaffneten Kampf zwischen Russen und Polen. In einem Tagtraum durchlebt Sophie das Scharmützel unweit der Stadt, das eine vernichtende Niederlage für ihre Landsleute bedeutet. Boleslas selbst wird nicht nur schwer verletzt zu seiner Schwester zurückgebracht, auch ist mittlerweile von der Zarin persönlich eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt und jedem die Todesstrafe garantiert worden, der den Flüchtigen unter seinem Dach verstecken und nicht den Autoritäten ausliefern solle. Es ist klar, dass Boleslas nicht für immer im Schoß seines Familienanwesens verborgen werden kann, weshalb Baron von Kempelen einen raffinierten Plan ausheckt, wie es möglich sein sollte, seinen Ziehsohn unbemerkt über die Grenze nach Deutschland zu bringen, wo er den Freiheitskampf aus der Ferne weiterlenken könne und zudem nicht mehr um seinen Kopf fürchten müsse. Innerhalb kürzester Zeit hat der Erfinder einen angeblichen Schachautomat kreiert, mit dem er auf Reisen zu gehen gedenkt, um ihn an den Fürstenhöfen Europas einer staunenden Menge vorzuführen, die nicht ahnt, dass sich in der aufwändig konstruierten Maschine in Wirklichkeit Boleslas verborgen hält, der auf diese Weise aus dem russischen Herrschaftsgebiet gebracht werden soll. Begleitet von Sophie, der Tänzerin Wanda, die Boleslas einst vor einer Vergewaltigung durch Russen rettete, sowie der Magd Olga, begibt sich von Kempelen auf die Reise und versetzt ein Publikum nach dem nächsten in Jubel und Ehrfurcht. Leider dauert es nicht lange bis ein ehemaliger Schachpartner Boleslas, ein Major namens Nicolaieff, im Stil des Schachautomaten den seines erbittertsten Kontrahenten wiederzuerkennen glaubt, bald dem Geheimnis des Maschinenmenschen auf die Schliche kommt und die Zarin Katharina darüber in Kenntnis setzt, dass einer ihrer Erzfeinde als Schachspieler durch die Lande reist. Dem nichtsahnenden Vom Kempelen bleibt nicht viel übrig als die Einladung an den Zarenhof, die alsbald bei ihm eintrifft, anzunehmen, und sich mit Boleslas ins Herz des Feindesland zu begeben, wo sich Katharina selbst im Wunsch, Boleslas ein besonders schmerzhaftes Ende zu bereiten, dem Schachautomaten als Gegnerin gegenüberstellt…

Meiner Meinung nach lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Raymond Bernards LE JOUEUR D’ÉCHES und Abel Gances epochaler NAPOLEON-Verfilmung nicht von der Hand weisen, auch wenn es natürlich schwierig zu klären sein wird, ob es sich hierbei um einen Zufall handelt oder ob sich Bernard tatsächlich zumindest stellenweise von dem etwa zeitgleich entstandenen Mammutwerk Gances inspirieren ließ. Klar muss allerdings sein, dass LE JOUEUR D’ÈCHES mit seiner Laufzeit von knapp zweieinhalb Stunden nicht mal ansatzweise mit dem mehrstündigen NAPOLEON mithalten kann, und dass der Film auch rein formal wesentlich weniger technische und narrative Neuerungen aufzuweisen hat, nichtsdestotrotz stellt der Film, wie ein Großteil des Oeuvres Gances, eine relativ unausgegorene Mischung verschiedenster Elemente dar, die allesamt irgendwo zwischen großem Kino und schlecht gealterter Stummfilmmelodramatik hin und her pendeln, und so gut wie nie ein homogenes Gesamtbild ergeben. Auffällig ist bei LE JOUEUR D’ÈCHES zunächst, dass der Film offensichtlich in zwei Hälften zerfällt, die außer den handelnden Personen nicht wirklich viel miteinander zu tun haben. So wirkt der erste Teil nicht viel anders als jeder beliebige Propagandastreifen, der jemals über ein unterdrücktes Volk gedreht wurde, das den Aufstand probt, und strengt an mit seiner plakativen Schwarzweichzeichnung, die so ziemlich alle Russen als unmenschliche Bestien darstellt, während den Polen durch die Bank weg ein lauteres, reines Herz in den Brustkörben pocht, eine agitatorische Grundhaltung, die mich bei einem polnischen Film der gleichen Zeit weniger verwundert hätte als bei einem französischen Stummfilm von 1926, bei dem sich mir nun nicht wirklich erschließt, weshalb man gerade dem Freiheitskampf Polens im 18.Jahrhundert eine derart propagandistisch unterfütterte Aufmerksamkeit schenkt. Zumal jener Freiheitskampf im weiteren Verlauf des Films, sprich: in seiner zweiten Hälfte, nahezu vollkommen vergessen wird, wenn alle patriotischen Elemente einer völlig wirren, verrückten, teilweise gar surrealistischen Abenteuergeschichte weichen, in der der Film sämtliche Register von höfischen Intrigen, heimlicher Liebe und außer Kontrolle geratenen Automatenmenschen zieht. Wirkt die erste Hälfte viel zu überladen mit Figuren, die andauernd ihre Vaterlandsliebe beschwören, und wenig subtil angewandten Mitteln, den Zuschauer für die Revolte der Polen zu gewinnen, versteht sich der zweite Teil ganz offenbar als unterhaltsame Abfolge spannender und mitreißender Szene, die sich in einen Höhepunkt steigert, der den Namen wirklich verdient. Zwar mögen einige Ideen durchaus over-the-top erscheinen, gerade diese Szenen waren es aber, die mir persönlich am meisten gefielen. Herausstechend ist hierbei wohl die Todesszene Nicolaieffs, der von der Zarin, während die von Kempelen und sein Gefolge erwartet, in das Wohnhaus des Barons gesandt wird, um das einmal von Grund auf zu durchsuchen, wobei er unwissentlich eine Alarmschaltung auslöst, die eine kleine Armee von Maschinensoldaten auf den Plan ruft, die wirken, als entstammten sie geradewegs einem US-amerikanischen Abenteuer-Serial, und den Spion säbelschwingend für sein unbefugtes Eindringen bestrafen. Überhaupt weißt der Film mit solchen phantastischen, vor allem an die deutsche Romantik erinnernden Einfällen mehr zu überzeugen als mit seinem historischen Gehalt, der sowieso eher gering eingeschätzt werden muss. LE JOUEUR D’ÈCHES ist kein Film, dem es darum geht, die Epoche, in der er spielt, mit den Blicken eines Historikers zu beleuchten, vielmehr biegt er sich die Weltgeschichte so zurecht wie es seiner eigenen Geschichte zugutekommt. So beruht die Figur des Barons von Kempelen zwar auf einer historischen Figur, einem österreichisch-ungarischen Universalgelehrten, der im 18.Jahrhundert tatsächlich mit einem fingierten Schachautomaten auf Reisen ging, mit der Filmfigur von Kempelen allerdings, wie man allein schon an seiner Herkunft sieht, so gut wie gar nichts zu tun hat. Einen wirklichen Vorwurf kann man dem Film daher auch nicht dahingehend machen, dass er die Situation Polens 1776 äußerst vereinfacht darstellt.

Neben inhaltlichen Kreativitätsschüben wie dem erwähnten Ableben Nicolaieffs, einer der besten Szenen des Films, die bezeichnenderweise für die eigentliche Handlung kaum von Bedeutung ist, gefielen mir vor allem viele kleine Details, mit denen LE JOUEUR D’ÈCHES die Grenzen zwischen Automaten und Menschen ständig verwischen zu wollen scheint, und sich damit, bewusst oder unbewusst, in der Nähe der Mensch-Maschine eines LaMettries platziert und damit eines philosophischen Kerngedankens der Epoche, in der er spielt, setzt. Auffällig wird das nicht nur in der Sterbeszene von Kempelens, wenn dessen allmählich zu schlagen aufhörendes Herz mit einem Getriebe gleichgesetzt wird, das zum Stillstand kommt, sondern auch in der dauernden Wechselwirkung von Menschen und Symbolen. Sophie wird zum Symbol des polnischen Aufstands, obwohl sie, wie man später erfährt, gar nicht die leibliche Schwester Boleslas ist, sondern in Wirklichkeit Tochter russischer Eltern. Nicolaieff gesteht Sophie seine Liebe, indem er sie malt. Sophie tagträumt von der Schlacht zwischen Polen und Russen, wobei ihre verklärende, hoffnungsvolle Sicht auf einen glücklichen Ausgang des Kampfs mehrmals mit Aufnahmen der wirklichen Schlacht kontrastiert wird, die alles andere als ruhmvoll abläuft, und, auch das eine Ähnlichkeit zu Gance, mittels Handkameras inszeniert wurde, was dem Zuschauer das Gefühl gibt, sich mitten unter den Kämpfenden zu befindet. Nicht zuletzt verwandelt sich Boleslas schließlich in den schachspielenden Automaten, um sein Leben zu retten. Trotz all dieser inhaltlichen Finessen und den zum größten Teil beeindruckenden Kulissen und Kostümen, die vor allem beim Maskenball am Hofe Katharinas zur Geltung kommen, hat der Film nichts von einem vergessenen Meisterwerk, fehlt ihm doch ein eigener Rhythmus, ein eigener Stil, einen Rahmen, der ihn irgendwie zusammenhält. In der vorliegenden Form gleicht LE JOUEUR D’ÈCHES einer Aneinanderreihung von Szenen, die einander selten bedingen, mit viel zu vielen Zwischentiteln, die oftmals einfach nur nerven, und unzähligen Nebenfiguren, deren Bedeutung für die Handlung gleich Null ist. Dass man etwas comic relief in Form der Magd Olga und einem russischen Tollpatsch namens Roubenko einstreute, mag ich noch verschmerzen, auch wenn ich mir unter witzig etwas Anderes vorstelle, weshalb nun aber unbedingt die Tänzerin Wanda eingeführt werde musste, erschließt sich mir nicht wirklich. Zusätzlich leiden die meisten Figuren entweder unter Schauspielern, die es nicht schaffen, ihnen Leben einzuhauchen (besonders Charles Dullin als von Kempelen bringt es fertig, seine auf dem Papier eigentlich interessante Rolle noch blasser wirken zu lassen als die meisten Automatenmenschen, die im Film auftreten) oder unter einer völlig unglaubwürdigen Psychologie (dass Boleslaw als überzeugter polnischer Patriot einen russischen Prinzen zu seinen besten Freund zählte, möchte ich dann doch bezweifeln, und es spricht auch Bände, dass die Verliebtheit, die in Sophie für ihren angeblichen Bruder erwacht, nicht etwa visuell, sondern einzig mittels einer laschen Zwischentafel dargestellt wird). Aufgrund seines stellenweise wirklich zähen Tempos könnte LE JOUEUR D’ÈCHES für manchen Zuschauer außerdem eine nicht zu unterschätzende Geduldsprobe sein.

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