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Der unwiderstehliche Reiz Venedigs, jene Mischung aus morbidem Charme des Verfalls und verschwenderischem Luxusdekor evoziert bei dem geradezu makellos schönen jungen Paar Mary und Colin (Natasha Richardson, Rupert Everett) nach einer anfänglich "mit angezogener Handbremse" gelebten Zuneigung einen Rausch der Sinne. Die beiden Engländer sind ohne Marys Kinder nach Venedig gekommen, um ihre weitere Beziehung zu klären. Als sie hungrig spätabends noch ein Restaurant suchen, verlaufen sie sich in dem Labyrinth aus Gassen und Kanälen. Da begegnet ihnen scheinbar zufällig ein pomadiger Dandy namens Robert (bewährt psychisch unausgelotet: Christopher Walken), der sie zu einem Lokal führt, sein eigenes, was er zunächst verschweigt, während er das Paar neugierig ausfragt.  Mary und Colin wissen nicht, dass er sie bereits öfter, zum Beispiel am Canal Grande, in einer Glasbläserei auf Murano oder beim Betrachten der Carpaccio-Gemäldezyklen in der Scuola degli Schiavoni, heimlich fotografiert hat. Müde und vom Rotwein benebelt, finden Mary und Colin nicht mehr zurück ins Hotel und müssen die Nacht im Freien verbringen. Robert erblickt sie am nächsten Morgen übernächtigt in einem Café und nötigt sie, sich in seinem mit edlen Antiquitäten und Stoffen ausgestatteten byzantinisch-venezianischen Palast auszuschlafen. Als sie nackt aufwachen und ihre Kleider nicht finden können, hat Roberts vertrauenerweckend und leutselig scheinende Frau Caroline (brillant doppelgesichtig: Helen Mirren) eine Erklärung dafür: Sie habe die Kleider gewaschen und die beiden Nackten beim Schlafen beobachtet. Nicht nur bei Robert, auch bei Caroline, einer gebürtigen Kanadierin, scheinen Manieriertheit und Manie eng beieinander zu liegen. Der fassunglose Colin muss dies selbst unvermittelt und schmerzhaft erfahren, als der von einem geradezu pathologischen Ahnenkult getriebene Robert ihm eiskalt in die Magengrube schlägt. Mary entdeckt in einem herumliegenden Stapel Fotos auch eines jener, die Robert heimlich von ihnen gemacht hat. Sie wahrt die Fassung und erzählt Colin hinterher davon, nachdem sie sich der Vereinnahmung im aristokratischen Ambiente entziehen konnten. Am nächsten Tag aber lassen sie sich ebenso widerwillig wie arglos von der um einen Besuch flehenden Caroline ein weiteres Mal zum Betreten des für eine lange Abwesenheit vorbereiteten Palastes hinreißen. Die Dimension der Obsessionen, die hinter den von Robert heimlich gemachten Fotos steckt, wird ihnen erst klar, als es zu spät ist. Das diabolisch-dekadente Spiel von Robert und Caroline, die besessen sind von ihren gefährlich verschobenen Wertmaßstäben, gipfelt in einem albtraumhaften, kaltblütigen Finale.

Die amoralische Komponente des Gesehenen wird in den Schlussszenen, vor allem durch die Distanziertheit Roberts beim Verhör und der gebetsmühlenartig wiederholten Ode an seinen Vater abermals auf drastische Weise deutlich. Vieles in "Der Trost von Fremden" erinnert an "Wenn die Gondeln Trauer tragen" - sah man dort nicht genau diese Brücke oder Gasse genauso? Zumindest ähnlich. Und wie in dem verstörenden Meisterwerk von Nicolas Roeg steuert auch hier ein englischer Tourist fatal seinem gewaltsamen Tod entgegen. Der Spannungsbogen funktioniert hier aber auf andere, kammerspielartige Weise.

Regisseur Paul Schrader hat es hier verstanden, das Schicksalhafte, das aus dem Banalen erwächst,  mit einer niemals den Handlungsstrang verlassenden Erotik sans-gêne zu verbinden. Dass von Autor Ian McEwan eine sexuelle Spannungskomponente angelegt wurde, hat dramaturgisch Zweck und Ziel (ebenso wie in seinem viel später verfilmten Meisterwerk "Abbitte"). Typisch für Nobelpreisträger Harold Pinter, von dem das Drehbuch stammt, ist die Tendenz zur Nicht-Unterscheidung zwischen Fantasiewelt und Wirklichkeit bei den zwei älteren Protagonisten (Walker, Mirren). Der visuelle Reiz des authentischen Schauplatzes Venedig und die gewahrte Einheit von Raum und Zeit zählen ebenfalls zu den Stärken dieses Films.

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