Ich halte "Barry Lyndon" für Kubricks mit Abstand provokantesten Film und vielleicht auch für seine beste Arbeit - so anscheinend aber auch weitgehend verkannt. Der Film führt gewissermaßen sogar "A Clockwork Orange" weiter, nicht nur in der Cover-Art, dahingehend, dass er das mechanistische Menschenbild beziehungsweise dessen kritische Umkehrung in die Zeit des Barocks naturalistisch und menschheitsgeschichtlich fort- respektive zurückführt. Echos des Films verhallen für mich zudem in "Eyes Wide Shut", wo ein viel engerer Ausschnitt bürgerlichen Lebens gezeigt wird, diesmal weder in einer Dystopie noch im Barock, sondern der (damaligen) Gegenwart (im ausgehenden 20. Jahrhundert in dem Kubrick starb). Ryan O'Neal hat mich hier auch ähnlich überrascht wie damals Tom Cruise.
"Barry Lyndon" scheint dabei zunächst ein etwas stark zynischer Humor zugrunde zu liegen, der eine Entwicklungsgeschichte fortführt wie man sie auch im Barock selbst, oder noch davor, verfasst kennt: die Abenteuergeschichte eines eigentlich liebenswürdigen irischen Jungen.
"Barry Lyndon" finde ich in seiner ersten Hälfte deshalb auch eher "nur" unterhaltsam. Eine Komödie.
Dies ändert sich jedoch ebenso zunehmend wie die Gelegenheiten dieser Figur in einer mitunter ziemlich grotesken barocken Freizeit für die besser Gestellten, deren Lebensweisen so der Film fast ausschließlich im Auge hat. Kaum ein anderer Film scheint das je so, ja tatsächlich nachgestellt versucht zu haben zu zeigen: manche Szenen sind als Momentaufnahmen eindeutig so etwas wie menschliche Stillleben von denen die aufwändige Kamera herausgeht.
Die integrierten Bilder von Schlachten und Militär lassen in der ersten Hälfte zusätzlich Kubricks Ansinnen bezüglich seines aufgegebenen Napoleon-Films erahnen.
Glück und Unglück liegen in "Barry Lyndon" sehr nah beieinander: vielleicht wäre er weit entfernt vom höchsten Adel in Irland glücklicher geworden, bei seiner verrückt-eigensinnigen Cousine, sein Leben wäre dort aber mit Sicherheit auch langweiliger gewesen und sozusagen ohne große Filmhandlung verblieben, wo sich nichts anderes als prostituierende Zwangsehen hinter Anstand und Familienbildern verbergen.
Als in den höheren Adel schließlich eingeheirateter "Barry Lyndon" zeigt sich für den vormaligen Falschspieler und Hochstapler dann festgesetzt auch schnell dessen Verdorbenheit, denn wie auch wieder in Uhrwerk Orange entfaltet sich so ein ethischer Diskurs um Familie, Bildung, Ausbildung, Karriere und Zukunft. Alles Mögliche scheint Kubrick dabei in Frage stellen zu wollen
Dieser "Barry Lyndon", dieser anfangs liebenswürdige, in seiner Zeit mit ihren ungeheuren Regeln gefangen erscheinende Ausbrecher daraus, und für ein heutiges Publikum wie ich glaube so auch erst sympathisch konzeptionierte Typ, betrügt seine teils teilnahmslos wirkende neue Frau nach Strich und Faden, misshandelt etwa das Stiefkind das ihn hasst und belügt schließlich sein Eigenes - zum Beispiel dahingehend in dem er ihm angeblich glücklich-brutale Kriegsgeschichten erzählt, wo er selbst durch den Krieg doch bloß Elend und Verlust erleiden musste.
Barry ist so zu einem Verlogenen geworden, der sich mit seinem Glück und Erfolg eher langweilt.
Das Provokante an dem Fall von Film ist, dass Gründe für das was ich mal weiterhin die "Verdorbenheit" Barry's nenne keineswegs klar erscheinen. Es wird aus dem Off zwar relativ früh dazu mal was gesagt, in Hinblick auf persönliche Wendepunkte diesbezüglich, doch erscheint mir das selbst für diesen Sprecher bloß Vermutungen zu sein. Fast scheint es so als hätte Barry das Leben selbst verdorben. Ein Urteil über Barry wird jedoch dennoch, das heißt wahrscheinlich auch deshalb nicht gefällt - eine dann durchgehende Ambivalenz die wenn schon nicht ausgesprochen misanthropisch, dann wohl schon einigermaßen pessimistisch ausgeht.
Wie üblich bei Kubrick bietet der Film mit seiner ganzen Kraft kaum Introspektionen wie sie zum Beispiel von Bergmann her bekannt sind. Ein Publikum wird allein auch so im Dunkeln bleiben.
In "Eyes Wide Shut" wird eine diesbezügliche Kommunikationslosigkeit final durchbrochen, worin dann aus meiner Sicht auch ein Fortschritt in der (westlichen) Gegenwart bestünde der hier nicht zur Debatte steht. Nostalgisch kann ich an "Barry Lyndon" deshalb nur herzlich wenig finden: dieser Barock erscheint mir bei aller schönen Romantik vor allem schrecklich zu sein.
Vielleicht kann man das zwar schon auch relativeren - indem man etwa sagt: ja gut, das ist halt eine weitere (bereits stereo)typische Story aus der Moderne, so wie im Ulysses oder halt bei "Citizen Kane", bloß ins Barock verfrachtet und mit vermutlich gefälligen Analogien fürs 20. Jahrhundert angereichert, das dürfte so eingebettet in Kubricks restliches Schaffen aber auch zu kurz greifen: weniger beeindruckt hat mich jetzt hingegen, zumindest digital wiedergegeben und ich habe "Barry Lyndon" nun zum ersten Mal tatsächlich gesehen, dessen Markenzeichen die Ausleuchtung von Szenen mit Kerzen. Und auch hier gilt, dass ich den Inhalt des Films interessanter finde als dessen zweifellos beeindruckenden Effekte in der Ausstattung.