Review

SCHONUNGSLOS REAL

„Sie haben heute dreimal auf mir rumgehackt - und das nur wegen dieser beschissenen Hose."
(Shaun)

Symbolisch kann dieser Satz als der Anfang vom Ende für Shaun betrachtet werden. Der zwölfjährige junge Bursche ist der Protagonist des schonungslos offenen und realen britischen Sozialdramas „This is England" aus dem Jahr 2006, welches allerdings erst Ende letzten Jahres in Deutschland auf DVD erschienen ist. In den letzten Jahren war es relativ ruhig geworden um Filme, die man als typisch Britisch bezeichnen würde, lässt man das Genre Humor mit „Ganz oder gar nicht" (1997) oder zuletzt „Hot Fuzz" (2007) einmal außen vor. Highlights wie „Trainspotting" (1996), oder etwa „Billy Elliot - I will dance" (2000) liegen bereits einige Zeit zurück. Nun ist ein neuer Film erschienen, der erschreckend offen und schonungslos ein durchaus reales Bild der britischen Gesellschaft der 80er Jahre zeichnet.

Thematisch hat der Regisseur und Drehbuchautor Shane Meadows mit „This is England" ein zeitloses filmisches Meisterwerk erstellt, welches sich gerade in heutiger Zeit vermutlich in jede Gesellschaft Länder übergreifend übertragen lässt. In Zeiten, in denen die Medien beherrscht werden von kriminellen jugendlichen Straftätern, brutalen, grundloses U-bahnschlägereien und endlosen Debatten von Politikern über ein härteres Jugendstrafrecht, ist der Streifen in diesen Tagen erschreckend aktuell. „This is England" zeichnet ein gnadenlos reales und authentisches Bild von jungen Menschen, deren aussichtslose soziale Situation, da sie von der Gesellschaft im Stich gelassen wurden, ihnen keine andere Wahl lässt, als mit Loyalität und Gewalt sich Anerkennung in der Gruppe zu verdienen.

Ähnlich wie sich die gesellschafts-politische Situation heute in Deutschland darstellt, war sie auch schon im Jahr 1983, in einem England unter der Führung von Margaret Thatcher, welches sich gerade von den Folgen des Falklandkrieges (2. April 1982 - 20. Juni 1982) erholt. Der gesellschafts-politische Rahmen des Films wird bereits in der Anfangssequenz abgesteckt. Diese ist eine Collage von originalen filmischen Zeitdokumenten (Kriegsszenen, Revolte, Randale, Straßenschlachten, Hochzeit Charles und Diana), welche in alter grieseliger, pixeliger VHS - Manier zu einem relaxten Reggae - Soundtrack aneinander gereiht wurden. In diesem Jahr, am letzten Tag des Schuljahres ändert sich das Leben des zwölfjährigen Shaun (brillant gespielt von Thomas Turgoose), dem Protagonisten des Films.

Der Alltag von Shaun ist gezeichnet von Tristesse und Trostlosigkeit. Dieses spiegelt sich auch im Setting des Films wieder: eine triste, trostlose, graue Wohngegend, Reihenhaus an Reihenhaus. In der Schule wird er wegen seines äußeren Erscheinungsbildes (siehe obiges Zitat) gehänselt, heute würde man es neudeutsch vermutlich Mobbing nennen. Seine Mutter Cynth (dargestellt von Jo Hartley) hat nicht genug Geld, ihm anständige Kleidung zu kaufen, weswegen er in der Schule regelmäßig Opfer von Spott wird, der selbst vor dem Tod seines Vaters keinen Halt macht. Dieser, die geliebte und schmerzlich vermisste Bezugsperson, ist im Krieg gefallen. Freunde hat schon auch keine, weshalb er sehr einsam ist. Um seine Unsicherheit und seinen Schmerz über den Verlust des Vaters zu kaschieren, übertüncht er diese Schwächen durch respektloses, vorlautes Auftreten gegen Ausländer und ältere Mitmenschen. Dass er sicht von nichts und niemanden den Mund verbieten lässt, wird ihm schon bald helfen, die ersehnte Anerkennung und Achtung zu erhalten. Gerade als er wieder einmal total deprimiert ob der Hänseleien von Schule nach Hause kommt und sein einziger Wunsch es ist, zusammen mit seiner Mutter umzuziehen, wendet sich das Blatt.

Auf dem Heimweg von der Schule begegnet er durch Zufall Woody (gespielt von Joseph Gilgun) und seiner Gruppe abgestumpfter Jugendlicher, deren Alltag darin besteht, stundenlang rumzuhängen, zu rauchen und Alkhohl zu trinken. Von diesen wird er zunächst argwöhnisch beäugt (und auch gehänselt), doch Woody hat erkannt, dass Shaun dringend Zuwendung nötig hat, hält an ihm fest und lädt ihn deshalb zur „Jagd" ein. Dieses Großereignis besteht darin, dass die Gruppe in lächerlichen Karnevalskostümen gekleidet durch die Gegend zieht und verlassene Wohnungen und Häuser mutwillig zerstört, um die aufgestaute Aggression abzubauen. Dies dient nicht nur der Abwechslung, sondern auch dem Entfliehen aus dem trostlosen Alltag. Shaun, der endlich die langersehnte Zuwendung erfährt, wird schon bald in die Gang aufgenommen, wodurch sein Selbstvertrauen ungleich bestärkt wird. Dieses Ritual ähnelt der einer zeremoniellen Amtseinführung, zu welcher auch die entsprechenden Symbole gehören. Shaun bringt seine Mutter dazu, ihm die notwendigen DocMartin´s - Stiefel zu kaufen, er lässt sich die Haare wenige Milimeter kurz scheren und bekommt von Woody das nötige karierte Hemd und die roten Hosenträger geschenkt. Rechtsradikal ist die Gruppe jedoch (noch) nicht. Nun darf er auch auf den Sauf- und Marihuanaparties der Gruppe abhängen, für die er an sich noch viel zu jung ist.

Dies ändert sich, als Combo (beeindruckend Stephen Graham) auf der Bildfläche erscheint. Gerade aus der Haft entlassen, gelingt es ihm schon bald die Führung in der Gruppe an sich zu reißen. Wenngleich dazu auch ein „Machtkampf" mit Woody von Nöten ist, bei dem sich die Mitglieder entscheiden müssen, sich den nationalsozialistischen Parolen von Combo: „Wir sind keine Nazis - wir sind Nationalisten!" anzuschließen, oder bei dem „vernünftigen" bzw. gemäßigten Woody zu bleiben. Auch Shaun muss sich entscheiden. Er wird von Woody Combo mit den Worten vorgestellt: „Unser jüngster Rekrut!", worauf sich Combo mit den Worten: „Bist´n echter Skinhead" an Shaun wendet und dieser dies bejaht, obwohl ihm die Bedeutung des Wortes Skinhead nicht bewusst ist. Am darauf folgenden Tag hält Combo vor versammelter Truppe eine nationalsozialistische Brandrede, die man vermutlich in einschlägigen Szenekneipen in Deutschland auch heute noch in etwa so hören könnte. Er wettert mit Stammtischparolen gegen Ausländer, die es wagen nach England zu kommen und dort Arbeitsplätze weg zu nehmen. Schonungslos offen, ehrlich und real gelingt es Combo die Gruppe zu spalten. Ihm gelingt es auch, Shaun auf seine Seite zu ziehen, indem er an dessen Stolz und Ehrgefühl appelliert: „In deinem Herzen trägst du den Stolz von deinem Dad!" Damit hat er voll ins Herzen von Shaun getroffen. E ist zwar hin- und hergerissen, zum einen Woodys Freundschaft nicht auf Spiel zu setzen, zum anderen, seinen Vater postum Stolz zu machen. In den folgenden Tagen wird Combo Shauns Vaterersatz: „Ich verspreche dir, ich wird dich nicht hängen lassen!". Nachdem die Fronten nun geklärt sind und Shaun nun Combos Ziehsohn ist, wird nicht nur der Ton in der Gruppe rauer gegen jede Art von Kritik von innen und außen, sondern auch die Handlungen werden brutaler. Aus anfänglichen Jugendstreichen werden nun handgreifliche Straftaten, bis am Ende die Szene schließlich eskaliert.

Den Machern ist es gelungen, einen wunderbar einfühlsamen und stimmigen Soundtrack zusammenzustellen, der die Bilder wunderbar unterstreicht und intensiviert. Sind die Bilder anfangs noch untermalt mit lässigen Reggae - Klängen, die noch eher an die wilden, unbedarften 70er Jahre erinnern, ändert sich dieser schlagartig, als sich Combo zu Shauns Vaterfigur aufspielt. Von nun an beherrschen aggressive Punk-Klänge das Geschehen. Von nun an Kommen dem Betrachter Woodys Streiche - eben untermalt durch diese post - Hippie - Melodien a là Bob Marley - noch mehr wie kleine Jungsstreiche vor.

FAZIT:

Den Mannen um Shane Meadows ist mit „This is England" ein zeitloses, sozialkritisches Meisterwerk gelungen, welche die Schwächen der britischen Gesellschaft der 80er Jahre ebenso erschreckend authentisch offen legt, wie die der Deutschen im Jahr 2007 bzw. 2008. Selten hat ein Film eindrucksvoller die Schachstellen einer von der Gesellschaft vernachlässigten Schicht dargestellt. Die Handlung könnte in jeder beliebigen Stadt in jedem Land auch heute noch genauso stattfinden. Durch das Einstreuen von originalen Videoclips - besonders am Anfang und am Ende des Films - erscheint die Handlung noch realer. Der Film ist nichts für Schwache Nerven und völlig ungeeignet für einen gemütlichen Filmeabend unter Freunden. „This is England" wühlt auf und hinterlässt beim Betrachter eher einen deprimierten und verstörten bleibenden Eindruck. Selten hat ein Film so den Zeitgeist der heutigen Gesellschaft getroffen, deren Schwächen so schonungslos offen gelegt und somit zur einen anregenden Diskussion angestoßen.

(9 / 10 Punkten)

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