Wenn Akira Kurosawa den klassischen Schriftsteller und Theaterautor William Shakespeare zitiert, dann verbindet er westliche mit der östlichen Kultur. Während er die Geschichte eines adeligen Hauses im 16. Jahrhundert nicht unbedingt werkgetreu, aber sehr nah am Original lässt, lässt er asiatische Sichtweisen und japanische Traditionen einfließen, und gibt dem bekannten Stück „King Lear“ ein völlig neues, faszinierendes Gesicht. Die Story ist voll von törichten Männern und intriganten Frauen, optisch einfach nur überwältigend dargestellt. Denn hier scheint alles visuell ins Extreme gewogt worden. Alles scheint perfekt, isoliert, sinnlich.
Es wird die Geschichte des Großfürsten Hidetora Ichimonji erzählt, der sich zur Ruhe setzen will und sein Land und seine Macht auf seine drei Söhne verteilen will. Sein direkter Nachfolger soll sein ältester Sohn Takatora sein. Sein jüngster Sprössling Saburo erahnt die Machtgier seiner Brüder und tadelt seinen Vater. Der jedoch sieht seinen Fehler nicht und verbannt Saburo. Doch nach der Machtübernahme Takatoras kommt es schnell zum Streit zwischen ihm und seinem Vater. Angestachelt durch seine Frau Kaede lässt er seinen mächtigen Vater ebenfalls verbannen. Es kommt schließlich zum Kampf zwischen Takatora und seinem jüngeren Bruder Jiro, während Hidetora von Sinnen durch das Ödland streift…
Im ersten Akt, vor dem ersten Plotpoint, wird klar, dass es sich hier um ein großes Theaterstück handelt: Weite Aufnahmen von Männern, die in einem satt-grünen, japanischen Wald sitzen und diskutieren. Die erste halbe Stunde besteht nur aus Dialog und minimaler Gestik. Im krassen Gegensatz zu diesen gemächlichen, ruhigen Szenen stehen die Kampfsequenzen zu Mitte des Films. Hier beginnt Kurosawa seine Kamera schnell zu bewegen, Schnitte hastiger zu setzen. Er taucht in das Surreale ein. Die Kämpfer treten in eindeutig zu unterscheidenden, da farbig differenten Rüstungen auf, die überlegen und prächtig anzuschauen sind. Allerdings enden sie in einem bluttriefenden Chaos (japanische Übersetzung von Chaos = „Ran“), in dem das Gemetzel überspitzt und sehr substanziell dargestellt wird. Und am Ende nutzt Kurosawa seine Farbsymbolik vollständig aus. Es ist der finale Kampf, die letzte Schlacht. In einigen der letzten Dialogen scheint sogar Endzeit-Stimmung aufzukommen. Kurosawa schildert das Ende der Dynastie wie das Ende der Erde. Die Parteien stehen sich auf Hügeln gegenüber – nur ihre schwarzen Silhouetten sind beim Opponenten zu erkennen. Bedrohlich, wie visuell nur wunderschön gönnt uns Kurosawa ein paar ruhige Minuten, bis es zum Schluss kommt. So fängt die endgültige Bataille in versöhnlichem, idyllischen Grün an, und endet (wieder Endzeit-ähnlich) im trostlosen Braun. Genauso verändert sich das Antlitz des Großfürsten Hidetora. So strahlt es zu Anfang gülden, prachtvoll, feudal. Doch zum Ende ist er blass, ausgelaugt, dem Ende nah. Das Visuelle scheint bei „Ran“ perfekt zu sein: Kurosawas packende, glanzvolle Bilder sind einfach gewaltig. Jedes einzelne Szenenbild könnte ein Gemälde sein.
Aber auch inhaltlich geizt Kurosawa nicht mit Aussagen. So geht es ihm (wie auch Shakespeare) natürlich um Ethik. Um Verantwortung. Um Loyalität. Und um die Macht. Stereotype Figuren findet man weniger, sondern eher Allegorien auf gängige Charakterbilder. Die klassischen Theaterfiguren werden durch das Japan-typische Overacting zu plastischen Figuren, die alle ihren Grundregeln gehorchen. Der Großfürst ist blind. Er sieht weder die Dummheit und den Geiz seiner älteren Brüder, noch die Liebe und die Klugheit seines jüngsten Sohnes. Kaum ein guter Rat wird von den tragenden Figuren angenommen, jede gut gemeinte Hilfe wird in den Wind gestoßen. Die Hidetora-Sohne werden komplett als unüberlegt bis töricht dargestellt, die Frauen als manipulative Intrigantinnen. Doch Kurosawa zeigt uns auch den Mittelweg. So ist die einzige Figur, die sich von ehrlichen, wahren Emotionen und klugen Beobachtungen leiten lässt, der Hofnarr des Fürsten. Dargestellt wird dieser schelmische Narr Kyoami von einem japanischen Transvestiten namens Peter, dessen Geschlecht kaum zuordbar ist – besonders im japanischen Original. Der Darsteller Peter war übrigens sieben Jahre später im fünften "Guinea Pig"-Teil zu sehen.
„Ran“ ist ein elegisches Schlachtenepos. Von überwältigender, visionärer Ästhetik. In seinen Kampfszenen zeigt sich seine Intelligenz am deutlichsten. Hier spielt er mit dem Zuschauer. Eine Bilderwut voller Pfeile, Blut, Schwert prasselt auf uns hernieder, alles virtuos geschnitten und herrlich klagend vertont. Seine lyrischen Bilder finden in ihrem Ende ihren pessimistischen Höhepunkt. „Ran“ ist ein gewaltiger letzter, großer Kraftakt eines bewundernswerten Regisseurs. Kurosawas letzter visueller Höhepunkt seines Lebens. „Ran“ ist mit Sicherheit einer der besten Filme aller Zeiten.