Bis heute gilt im Kino die Erfolgsregel "bigger than Life", doch während damit lange Zeit die großen Gefühle auf der Leinwand gemeint waren, verstehen wir heute darunter nur noch "schneller, lauter und sensationeller". Der Run auf die besten CGI-Effekte, aufregendsten Actionszenen und monumentalsten optischen Eindrücke hat die starken Emotionen abgelöst.
Doch das bedeutet keineswegs, dass der moderne Zuschauer auf Gefühle verzichten möchte, nur das er diese eher unterschwellig mit einer Story verwoben sehen will, während in der Hochphase des Melodramas in den 50er Jahren die Emotionen gar nicht deutlich genug ausgedrückt werden konnten. Das wirkt heute so fremdartig, dass es manchmal unfreiwillig komisch herüber kommt, aber Regisseur Francois Ozon meint es mit seiner "Angel" ganz ernst.
Angel (Romola Garai) lebt 1910 in einer englischen Kleinstadt über dem kleinen Laden, den ihre Mutter (Jacqueline Tong) betreibt, und verwirrt diese und ihre Tante mit ihren hochtrabenden Vorstellungen. Denn Angel weiß genau, dass sie einmal reich und berühmt werden wird, und statt weiter in die Schule zu gehen und sich auf ein einfaches Leben vorzubereiten, schreibt sie mit glühender Energie Romane, die sie auch sogleich verschiedenen Verlegern zukommen lässt.
Ozon orientiert sich an seinen großen Vorbildern Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder und entwirft das klassische Drama eines Menschen, der nicht in den gesellschaftlichen Grenzen verbleibt, die ihm gemäß Bildung und Stand zugewiesen sind. Sein Plot erinnert an Sirks "Imitation of Life", in dem auch die Hauptperson die Realitäten schlicht leugnet und ein Leben wählt, dass vor allem in der eigenen Vorstellung stattfindet. Aus der Diskrepanz zwischen dieser inneren Haltung und den sich tatsächlich ergebenden Konsequenzen entsteht die Spannung, die sich um so mehr steigert, um so länger die Illusion eines traumhaften Lebens erhalten bleibt.
So funktioniert das klassische Melodrama auch nur im Zusammenspiel mit einer großen Zahl an Nebenfiguren, die die Hauptfigur begleiten und deren eigene Psyche dafür zuständig ist, ob sie an der Illusion mitwirken oder sie zerstören. Sehr schön ist das schon zu Beginn zu erkennen, als Angel nach London kommt, um den Verleger Theo (Sam Neill) aufzusuchen, der als Einziger auf ihre Manuskripte positiv reagiert hatte. Er ist völlig überrascht als die hübsche, junge Frau vor ihm sitzt, denn er hätte angesichts des Kitschromans eher an eine ältere Dame als Autorin gedacht. Als er Angel eine kleine Zahl unwesentlicher Korrekturen vorschlägt, verweigert sie dieses Ansinnen empört und verlässt umgehend das Verlagshaus.
In einem solchen Moment wäre eine Karriere als Autorin normalerweise gescheitert, aber Theo geht Angel zum Bahnhof nach und lässt sich auf deren Forderungen ein. Sam Neill spielt hier einen älteren Mann, der die Qualitäten in dem trivialen Roman erkennt, weil er Angels ungewöhnliche Psyche versteht. Die Schlüssigkeit dieses Verhaltens zeigt sich in der nächsten Szene, in der er Angel zu sich und seiner Frau (Charlotte Rampling) nach Hause mitnimmt. Die ungehobelte Angel benimmt sich völlig daneben und stösst der sehr niveauvollen, höflischen Dame regelmäßig vor den Kopf. Mit distinguierter Miene macht Charlotte Rampling als Hermoine keinen Hehl daraus, was sie von der jungen Autorin hält, aber sie ist viel zu gut erzogen, als das sie sich zu einer Auseinandersetzung hinreißen liesse.
Später einmal wird sie ihren Mann fragen, ob er immer noch in Angel verliebt ist. Dieser schaut überrascht, aber es ist offensichtlich, dass gerade Angels ungezwungene Art, die im totalen Kontrast zum Verhalten seiner Frau liegt, eine erhebliche Faszination auf ihn ausübt. Deshalb fördert er sie in jeder Hinsicht und ist damit der wichtigste Baustein zu ihrem großen kommerziellen Erfolg und dem damit entstehenden gesellschaftlichen Ansehen und Reichtum. Ozon erzählt diese kleine Geschichte um die Gefühle des Verlegers nur nebenbei, aber gerade diese nachvollziehbaren Emotionen, diese nur ganz leicht angedeutete unglückliche Liebe, die Angel nie verstehen wird, macht die komplexe Qualität des Dramas aus.
Und sie steht auch im Gegensatz zu den Empfindungen, die der Zuschauer für Angel hegt, denn Ozon bemüht sich gar nicht, diese in ein positives Licht einzutauchen. Ihre an völlige Ignoranz gegenüber ihren Mitmenschen grenzende Selbstverliebtheit konfrontiert den Zuschauer mit einer Vielzahl von Reaktionen, für die er kein Verständnis aufbringt. Nicht nur ,dass sie über keinerlei Geschmack und Bildung verfügt, auch ihr zickiges Verhalten lässt sie unsympathisch wirken. So kauft sie mit ihrem vielen Geld das leerstehende Schloss ihrer Träume und richtet es fast museal ein. Ihre Mutter bekommt ein großes Zimmer, ohne das Angel das geringste Gespür dafür hat, dass sie damit die alte Frau aus ihrer gewohnten Umgebung reisst. Aber auch ihre Mutter kann ihre keine Grenzen setzen, da sie selbst ein schlechtes Gewissen hat, weil sie nicht an Angels Erfolg geglaubt hatte.
Die mangelnde Identifikation zu Angel wird dem Film oft angelastet, aber sie ist in ihrer Gestaltung nur konsequent, denn damit verhindert Ozon jegliche verlogene Attitüde. Wäre Angel ein gutherziger, lauterer Charakter, verkäme die Geschichte zur typischen Story einer Aufsteigerin aus einfachen Verhältnissen, der man als Zuschauer ihren Erfolg gönnt. Doch damit verriete man die Grundlagen eines guten Melodramas, das keine Eindeutigkeit in der Zuordnung verträgt und gerade davon lebt, dass jeder Rolle, sei sie auch noch so klein, ein gewisses Eigenleben zugestanden wird.
So fügt sich ein Stein zum nächsten und Angel überschreitet mit ihrer fast an Autismus grenzenden Art jeden Widerstand. Selbst der Tod der Mutter wird von ihr nur mit einem noch rauschenderen Fest übertönt, der sie zum glücklichsten Menschen machen soll. Doch hier stösst sie an ihre erste natürliche Grenze, als sie ihren Traummann kennenlernt, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt. Esmé (Michael Fassbender) ist ein verarmter Maler, dessen Blick auf die Welt eher depressiv und kritisch ist. Auch er ist unwillkürlich von Angel fasziniert, aber gleichzeitig bleibt er seinen Ansichten treu. Mit ihrer stürmischen Art - sie überhäuft ihn mit Geld und Lob - vermag sie ihn eine Zeitlang zu überzeugen, aber in dieser Beziehung wird das beginnende Scheitern erstmals deutlich...
Ozon treibt seinen Film die gesamte Laufzeit über mit erheblichem Tempo voran und lässt uns angesichts der immer neu entstehenden Konflikte kaum zur Ruhe kommen. Dabei ist er einerseits regelrecht amüsant und im nächsten Moment tief traurig und hält sich immer an die wichtigste Prämisse eines Melodramas - sein Publikum zu unterhalten.
Doch diese Art Unterhaltung sind wir heute nicht mehr gewohnt und Ozon bleibt in seiner Gestaltung auch immer den 50er Jahren verhaftet und leistet sich nur wenige moderne Momente. Das dabei trotzdem nicht das Gefühl einer reinen Reminiszenz ensteht, liegt an der zeitlosen Qualität des Melodramas an sich, dass sich gerade auch angesichts der Filme von Douglas Sirk immer wieder beweist, die sicherlich in ihrer gesellschaftskritischen Dimension höher zu bewerten sind.
Im Grunde bewirken die hier gezeigten großen Emotionen nichts anderes als es auch die krawalltechnischen Auswüchse moderner Actionfilme wollen - sie wollen dem Zuschauer etwas verdeutlichen. Etwas das nur zu erkennen ist, wenn das Kino "bigger than Life" daher kommt und wenn es sich - wie in diesem Fall - um Emotionen handelt, die auch den Autoren zum Schluß zu Tränen rührten, dann spürt man schon etwas vom Kino, wie es sein sollte (8,5/10).