Maya ist sehr hübsch - eine Tatsache, die im Film immer wieder benannt wird, und die nicht überrascht, da Maya von Rosario Dawson gespielt wird. Dazu ist die 19jährige eine hoffnungsvolle, ernsthafte Studentin, in ihrem Naturell zurückhaltend und auf Grund einer vergangenen Liebesbeziehung, deren Verletzungen noch nachwirken, wenig an Männerkontakten interessiert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage sofort, warum sie sich ausgerechnet mit dem leicht durchschaubaren Aufreisser Jared (Chad Faust) trifft und mit ihm nach Hause geht ? - So eine Frau kann doch viel bessere Typen haben.
Schon an diesem Punkt wird der Unterschied zwischen "Descent" und sonst üblicher Filmkost erkennbar. Regisseurin und Autorin Talia Lugacy ist nicht an gängigen Erwartungshaltungen interessiert, sondern an der Realität und sie transportiert diese in unaufgeregten Bildern und ohne geschliffene Dialoge auf die Leinwand. In der Entwicklung bis zu der von Jared verübten Vergewaltigung zeigen sich die inneren Mechanismen einer Gesellschaft, die völlig andere Konstellationen hervorruft, als im Film gerne kolportiert wird.
Die Entstehung von Partnerschaften im Film setzt immer auf die Illusion einer Ausgeglichenheit, wenn etwa der Held die schönste Frau abbekommt. Wenn es einmal zu einem äußerlichen Ungleichgewicht kommt - wie in diversen Komödien - besitzt der optisch oder von der gesellschaftlichen Stellung her unterlegene Partner entweder besondere Fähigkeiten oder ist sehr sympathisch. Im Umkehrschluss entsteht Gewalt, wenn der Unterschied zu groß wird, da der Täter damit seine Unterlegenheit kompensiert. In diesen Fällen ist die Opferhaltung immer eindeutig und damit auch die Schuldfrage.
Talia Lugacys Darstellung einer Vergewaltigung ist dagegen an Alltäglichkeit kaum zu überbieten, weshalb es sich bei der reisserischen Aufmachung des Films durch die Marketingabteilung nicht um den üblichen Fauxpas handelt, sondern um ein echtes Ärgernis. Schon die Frage, warum Maya nicht die Polizei alarmiert, stellt sich nur, wenn man der Aufmachung Glauben schenkt. Dagegen beantwortet Jareds Bemerkung nach dem ohne sonstige Gewaltanwendungen erzwungenen Geschlechtsakt - den Lugacy konsequenterweise nur in den Gesichtern der beiden Protagonisten nachvollziehbar werden lässt - diese Frage von selbst - "Hat es dir gefallen?" - Er ist sich keiner Schuld bewusst und auch als er ihr nach einem halben Jahr wieder begegnet, ohne jedes schlechte Gewissen.
In diesem Zusammenhang sind die vielen kleinen Details von Bedeutung, die Talia Lugacy immer wieder einstreut. Da ist Mayas Mutter, die fragt, ob ihre Tochter wieder einen Freund hat, ihre Mitstudentinnen, die erwarten, dass Maya auch mal abends mit auf eine Party geht, und vor allem die diversen Bemerkungen von jungen Männern, deren Abqualifizierungen gegenüber unwilligen Frauen nicht von Selbstkritik, sondern von Verachtung geprägt sind. Das gesellschaftliche Bild, dass Lugacy hier entwirft, zeugt von keinem echten Interesse an einem Partner, sondern von einer möglichst umfassenden Erfüllung egoistischer Wünsche. Das Maya sich überhaupt auf Jared einlässt, liegt zum einen am Druck ihrer Umgebung, zum anderen daran, dass sie sich geschmeichelt fühlt.
"Descent" macht sich in seiner erzählerischen Anlage zwei durch verschiedenste Forschungen nachgewiesene Thesen zu eigen - das sich Menschen durch Hartnäckigkeit zu Handlungen gegen ihre innere Überzeugung verleiten lassen und das es eine enorme Dunkelziffer hinsichtlich sexueller Übergriffe gibt. Was hätte Maya der Polizei erzählen sollen, nachdem sie freiwillig mit zu ihm nach Hause gegangen war und auch erste Zärtlichkeiten zuliess ? - Konnte er ihr Entgegenkommen bei einem solchen Verhalten nicht erwarten ? - Im Film und der Zeitung liebt man das eindeutige, plakative Verbrechen, aber statistisch müsste Jedem bekannt sein, dass sexuelle Nötigung größtenteils im privaten Bekanntenkreis stattfindet.
Das es deshalb nicht harmloser ist, verdeutlicht der Film mit seinem Mittelteil, der eine Phase der Ziellosigkeit und des Abdriftens in Alkohol, Sex und Drogen demonstriert. Auch hier bleibt der Film seiner Linie treu, indem er die Undergroundszenen ohne jede Plakativität, fast eintönig schildert. Diese Phase verdeutlicht die Veränderungen, die eine solche Gewalttat in jedem Opfer - wenn auch auf unterschiedliche Weise - auslöst, und zugleich die Unwiederbringlichkeit des Urzustands der Psyche. Auch wenn Maya im dritten Teil des Films Rache an Jared ausübt, kann das letztlich keine Erlösung mehr bedeuten.
Talia Lugacy hätte theoretisch auf den Revenge-Teil ihres Films verzichten können, da Entstehung und Auswirkung der Vergewaltigung bis zu diesem Zeitpunkt genügend betrachtet und komplex eingeordnet wurden. Die abschliessende Szene ist in gewisser Weise fragwürdig, weil sie dem Film eine bis dahin nicht gekannte Plakativität gibt und erst die Provokation aufbaut, die teilweise für die Missverständnisse ihm gegenüber verantwortlich ist. Die Ausführung der Rache an dem Vergewaltiger entspricht erstmals der Erwartungshaltung an einen solchen Storyaufbau, mit dem die Tat auch für den Betrachter angemessen gesühnt werden soll.
Tatsächlich ist der Ablauf auch vertraut, beginnend mit der Täuschung des Opfers, dem unbemerkten Gefangennehmen bis zur offensichtlichen Tat. Doch im Verstoss gegen die emotionalen Regeln einer solchen Szene wird die Intention des Films und seine eigentliche Provokation erkennbar. In zwei kleinen Szenen bereitet Lugacy das geschickt vor, indem sie erst Jared im Kreis anderer Football-Mitspieler zeigt, wo er selbst zum Opfer wird, und dann seinen Gang von einer nächtlichen Sexualpartnerin bis zum Vorlesungssaal, wo er Maya wiedertrifft - bemerkenswerterweise wieder begleitet vom langsamen Satz aus Schuberts A-Dur Sonate, wie schon bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen im Restaurant.
Lugacy gelingt es dadurch, Mayas Rache in ihrer brutalen Härte als Verstoss gegen die Regeln zu verdeutlichen. Was Jared getan hatte, war in seinem Universum fast normal, mehr ein Ausnutzen einer Situation, aber Maya greift zu härteren Mitteln. Während Rache-Filme in der Regel ein besonders übles Verbrechen in den Mittelpunkt stellen, um damit die Reaktion des Opfers zu rechtfertigen, wirkt dieses in "Descent" unangemessen. So ist auch der abschliessende Blick auf Mayas Gesicht zu verstehen, die erkennt, dass die Vergewaltigung nicht nur ihre Psyche zerstört hat, sondern sie selbst zum Täter korrumpiert hat.
Man muss "Descent" nicht mögen. Wahrscheinlich ist das die schlechteste Reaktion auf den Film, da er keinen Moment gefällig ist. Aber er stellt einen Diskurs über den heutigen Zustand unserer Gesellschaft dar, in der einerseits zerstörerische Verhaltensmuster akzeptiert werden, andererseits schnell Vergeltung gefordert wird, um eine nur äußerliche Befriedigung zu erlangen. "Descent" stellt beides in Frage und damit auch die jeweiligen Erwartungshaltungen des Betrachters (8/10).