Review

Ein Film über den Körper im wahren Leben. Oder über leere Körper …

Mockumentaries sind in, also Filme, die so tun als ob sie Dokumentationen wäre, in Wirklichkeit aber Spielfilme sind. Klassischerweise natürlich Found Footage-Filme à la BLAIR WITCH PROJECT oder [REC], aber natürlich auch Klassiker wie MANN BEISST HUND. Oder der unglaubliche und sträflichst vergessene STRAFPARK von Peter Watson.

UTSUSHIMI nun handelt in erster Linie von einem Mann und einer Frau, was ja für einen Film schon mal ganz gute Voraussetzungen sind. Ein Hund kommt auch vor, Hachiko, eine japanische Legende, und der Inbegriff für Treue schlechthin. Hachiko war in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein Hund, der sein Herrchen, einen Universitätsprofessor, jeden Tag am Bahnhof abholte. Als der Professor während einer Vorlesung starb, kam Hachiko weiterhin jeden Tag pünktlich zum Bahnhof, und zwar bis zu seinem eigenen Tod zehn Jahre später. Treue. Aber vielleicht auch … Leere?

Die Frau, eine sehr junge Frau, eher ein Mädchen, sucht nach ihrem Schwarm, und sie wartet an Hachikos Denkmal auf den Mann. Wenn der Mann nicht kommt, dann nimmt die Frau eben das Denkmal ins Huckepack, schleppt es durch halb Tokio bis zu ihrem Schwarm, dem Koch eines Schnellimbisses, und will sich von diesem entjungfern lassen. Eine große Menschenmenge sammelt sich wegen dieser Aktion an, und da kann der Koch nicht so schnell nein sagen. Und außerdem, eine Frau die freiwillig mit ihm, und ganz ohne Verpflichtungen?

Hachiko und die Menge werden zurückgelassen, und man rennt durch Tokio auf der Suche nach einem Ort für das Schäferstündchen. Rennen tun die beiden deswegen, weil das Mädchen immer rennt. Running is Sex. Wenn sie rennt fühlt sie sich wohl, fühlt sie sich als Mensch. Das Mädchen hat eine andere Geschwindigkeit in ihrem Leben, und der Mann, japsend und fluchend hinterher stolpernd, muss das mit pfeifenden Lungen ebenfalls erkennen. In seinem Appartement schaffen sie es dann endlich miteinander … Nein, nicht ganz. Das Mädchen ist aufgeregt, ist verwirrt, ist hibbelig, tut so als ob sie auf das Klo muss, geht aber stattdessen auf die Straße, und schreibt in den Staub auf dem Briefkasten was jetzt gleich passieren wird. Sie ist ja sooooooooooo gespannt …

Dann endlich ist es soweit. Es ist … eigen. Anders. Das Mädchen hüpft auf dem Mann herum wie ein Flummi, schlägt ihn dabei, quietscht ganz furchtbar, und irgendwann fallen die beiden durch die Scheibe einer Türe. Das Mädchen fällt das Dach herunter und läuft fort. Sie ist sehr glücklich, sie ist überglücklich, und wenn sie glücklich ist, dann rennt sie …

Der Mann ist allerdings nicht so glücklich. Seine eigene Freundin reizt ihn gar nicht mehr, und er erkennt, dass er sich verliebt hat. Verliebt in das Mädchen mit der anderen Zeit. Er beginnt ebenfalls zu rennen, und auch wenn es ihm zu Beginn noch schwer fällt, wird er doch irgendwann ausdauernder. Er rennt durch Tokio um das Mädchen zu finden. Und er findet sie auch! Sie ist verliebt in einen anderen Mann und rennt gerade zu diesem Mann, einem Läufer, um ihn zu heiraten. Der Koch ist traurig. Wütend. Zornig. Er gerät in Rage und … bleibt stehen!

Nein, ich sage jetzt nicht, dass dies die ersten 30 Minuten sind, es ist schon weitgehend die Beschreibung des ganzen Films. Und all diese Rennerei, die Hektik, die Schreie, der versuchte und vollzogene Sex, all dies wird hautnah begleitet von einem kleinen Kamerateam. Eine Dokumentation über ein junges Mädchen, das mit dem Denkmal von Hachiko im Schlepptau ihren Liebhaber sucht und von diesem entjungfert werden will, auch wenn der noch gar nichts von seinem Glück weiß. Eine klassische Doku an einem Wochentag abends in einem Privatsender – Nichtssagend, grell, bunt, ein ganz klein wenig, erotisch, frech, unerheblich, billig.

Aber Sion Sono zeigt noch mehr. Er zeigt die Schauspieler, wie sie sich auf ihre Rollen in dieser Dokumentation vorbereiten! Sono durchbricht die vierte Wand, aber nicht die zum Zuschauer, sondern die zum Aufnahmeteam. Parallel zur Doku werden die Schauspieler beim Proben gezeigt, und irgendwann parallelisieren sich für kurze Zeit sogar die geprobten und die „real“ gesprochenen Texte. Wirkliches und künstliches Leben sind nicht mehr auseinanderzuhalten, denn auch wenn Sion Sono selber bei den Proben mitarbeitet, schließlich ist er der Regisseur, so wissen wir als Zuschauer ja doch, dass es sich bei den Schauspielern um Schauspieler handelt. Die irgendwann etwas anderes darstellen sollen.

Parallel dazu werden Proben eines Tanztheaters gezeigt, und ähnlich wie bei Carlos Sauras CARMEN überlappen sich auch hier Probe und Realität, werden die tänzerischen Auseinandersetzungen zu Diskursen zwischen den Personen. Zwischen den Körpern, denn UTSUSHIMI ist ein Film über Körper. Nicht nur über die leeren Körper, die quietschend durch Tokio rennen und nach Liebe schreien, sondern auch über elastische Körper, die ihre Beziehungen und ihre Gefühle (von denen sie nämlich voll sind) durch Tanz und Kunst ausdrücken können. Genauso wie die nackten Frauenkörper, die von einem Fotografen arrangiert und fotografiert werden, um am Ende in einer Galerie ausgestellt und von bekleideten Körpern angeschaut zu werden, und nur dadurch einen Sinn erhalten. Hübsch ist auch der Moment, wenn sich der Mann bei der Flucht aus einem Taxi das Bein bricht, und der Special Effects-Künstler während des folgenden Dialogs weiterhin Blutfontänen aus der Dose auf das Taxi sprüht, obwohl schon längst alles vorbei ist. Hauptsache es fließt Blut. Körper-Saft …

Auch Vasen sind Körper, genauso wie Kaffeetassen, und auch diese Körper sind es Sono wert betrachtet zu werden. Genauso wie ein Modemacher betrachtet wird, also jemand der Körper einkleidet, und der oft genug in der Meinung der Menschen aus hohlen Körpern reale Körper macht. Beziehungsweise hohle Körper ummantelt, auf dass sie gefüllt wirken. Kleider machen Leute nennt man das dann …
Aber das Hauptaugenmerk des Films liegt auf dem Mädchen und dem Mann. Auf diesen beiden, und auf der Fake-Reportage. Sono arbeitet hier mit allem Aussagemitteln, die so eine Mockumentary hat: Plötzliche Helligkeitsveränderungen durch schnelle Schwenks, viele und schnelle Schnitte, unscharfe Zooms, das gekünstelte Gehabe der Personen, die „Handlung“ wird auch mal durch die Personen verdeckt und die Kamera ist nicht immer auf der Höhe, nicht anders also als in einer „richtigen“ Dokumentation auf einem Privatsender … Ich weiß nicht, wie der Zustand des japanischen Privatfernsehen in den 90ern war, aber der heutige Zeitgeist des westlichen TVs wird meines Erachtens ziemlich gut getroffen. Eine hohle und künstliche Welt voller hohler und künstlicher … Körper. Die nur zur Zerstreuung und Unterhaltung dient, und einzig den Auftrag hat, ein wenig Nacktheit und viel Blödheit zu zeigen. Und manchmal auch anders herum. Das einzige was fehlt ist ein Off-Sprecher, der den Blödsinn dann auch noch erklären muss, aber vielleicht war das damals in Japan nicht üblich.

Spannend auch die Szenen, in denen das Mädchen das Denkmal durch Tokio zieht, begleitet von einem großen Mob Neugieriger. Erst als sie schreiend erklärt, dass sie „es“ tun will mit ihrem Liebsten, und dass sie eben auf dem Weg ist zu ihrem Mann, da sind alle begeistert, und aus den Neugierigen werden Jünger. Werden begeisterte Fans, die das Mädchen unter Tanzen und Singen zu dem Schnellimbiss geleiten und dort gespannt darauf warten was passieren wird. Erschreckend, wie sehr das allem den gängigen Fernsehformaten ähnelt, und entlarvend, wie einfach es ist, etwas zu erzeugen, was nicht so ist wie es scheint. Die Schauspielerin, die ihre Rolle lernt und später das Mädchen spielen wird, wirkt so dunkel und ernst. Konzentriert spricht sie ihren Text, geht voll in ihrer vorbereitenden Arbeit auf, um dann als Schauspielerin so dumm und quietschig zu wirken. Dem Rezipienten fallen Analogien ein zu Sylvester Stallone, der CLIFFHANGER gedreht hat obwohl er unter extremer Höhenangst leidet, oder Clint Eastwood, der in den Sergio Leone-Filmen immer an einem Zigarillo nuckelte, obwohl er Zeit seines Lebens überzeugter Nichtraucher war. Ob die Geissens wohl im Strassberg-Institut gelernt haben?

Nach dem Erstellen von Screenshots des Films lagen die Bilder von UTSUSHIMI zufällig neben den Bildern von Roger Vadims VICE AND VIRTUE. Was für ein Gegensatz! Hier die kühl durchkomponierten Schwarzweiss-Bilder der Vivisektion einer Beziehung und einer Historie, dort die wilden und fast anarchistischen Wackelshots einer Handkamera, die sich auf den Spuren von rennenden und vögelnden Menschen quer durch eine Großstadt bewegt. Faszinierend, was Film alles sein kann …

Doch ähnlich wie beim kürzlich gesehenen ANTIPORNO stellte sich für mich während des Zuschauens irgendwann einmal die Frage nach dem Sinn des Films. Filme von Sono kratzen irgendwie an der Schale des Filmemachens, oder vielmehr an der Haut des Filmeschauers, und sie stellen so manches in Frage, was man als Filmfan eigentlich als gegeben voraussetzt. Aber ganz ehrlich: Über weite Strecken hat UTSUSHIMI tatsächlich gefesselt, und die fast zwei Stunden sind viel schneller vergangen als ursprünglich gedacht. Mit UTSUSHIMI bricht Sion Sono den engen Rahmen des Drehens eines Spielfilms auf und erweitert ihn um Dinge, die normalerweise gar nicht dazu gehören, wodurch etwas ganz Eigenes erschaffen wird. UTSUSHIMI ist sehr anstrengend und hochgradig irritierend, aber auch ausgesprochen lohnend …

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