Review

Wenn ich nun schon zum hundertsten Jahre ein paar Zeilen über einen abseitigen Film schreibe, dachte ich mir, dass ich mir schon etwas Besonderes aussuchen müsste. Die Wahl fiel auf IL SEME DELL’UOMO von Marco Ferreri, ein Werk, bei dem es mich noch mehr als sonst verwundert, dass es in den Jahrzehnten seit seiner Entstehung augenscheinlich völlig in Vergessenheit geriet und heute wohl niemandem mehr auch nur eine Fußnote in der Filmgeschichte wert zu sein scheint.

Die Welt steht kurz vor ihrem Untergang. Eine Seuche ist ausgebrochen, Kriege und Krankheiten zerstören die Städte, Chaos und Wahnsinn fordern ihre Opfer. In diesem Weltuntergangsszenario beschließen zwei junge Liebende, Cino und Dora, sich dieser in einer Abwärtsspirale befindlichen Welt zu entziehen und ein Leben in Einsamkeit zu führen. Hierzu wird ein weitläufiges Haus an einem verlassenen Strand ausgesucht, in dem sie sich heimisch einrichten, sich einen schützenden Kokon schaffen, in dem sie die Tage des Verfalls und des Todes unbeschadet zu überstehen gedenken. Anfangs treibt sie noch die Hoffnung, die Welt könne sich noch einmal von ihrem Sterbebett aufgerappelt zu haben. So meinen sie in der Ferne über dem Meer ein Luftschiff zu erkennen, das sich beim Näherkommen allerdings bald als mit Heißluft gefüllte Coca-Cola-Flasche entpuppt, deren Werbeschriftzug ihnen Frohe Weihnachten wünscht. Spätestens jetzt stellen sie sich darauf ein, in Zukunft keine weiteren Menschen mehr zu haben als einander. Vor allem Cino ist es, den der Gedanke umtreibt, in ihrem neuen Domizil eine Art Museum zu gründen, in dem sie für die Nachwelt, falls denn eine existieren sollte, all das sammeln, was die Katastrophe ausgelöscht hat. Auf Regalen werden Käsestücke, Kameras und andere alltägliche Gegenstände wie kostbare Kunstwerke oder Exponate von höchstem Wert drapiert. Cino nutzt seine Zeit, diese Dinge für nicht vorhandene Museumbesucher zusammenzutragen und zu katalogisieren und findet seine Erfüllung in dieser Tätigkeit. Eines Tages indes erhalten die Beiden doch Gesellschaft. Als Dora eine der Fallgruben inspiziert, die sie rund um ihr Haus aushoben, um wilde Schweine oder Hasen zu fangen, trifft sie auf einmal auf eine Gruppe Reiter, vor denen sie bis zu ihrem Domizil flieht, wo sie und Cino instinktiv das Schlimmste fürchten und die Männer und Frauen für marodierende Überlebende des Weltuntergangs halten, die nichts weiter wollen als ihren Tod. Tatsächlich aber geht es den Reitern vielmehr um die Erhaltung der menschlichen Rasse. Sozusagen als letzte Reste der untergegangenen Staatsgefüge durchziehen sie die Lande auf der Suche nach weiteren Überlebenden, denen sie dann einen dubiosen Vertrag zur Unterzeichnung vorlegen, mit dem sich diejenigen, die ihren Namen unter ihn setzen, dazu verpflichten, alles daran zu setzen, das Verlöschen der Menschheit zu verhindern, in Doras und Cinos Fall, dass sie, um den Bestand zu sichern, so bald wie möglich Eltern werden. Begeistert zeigen sich der Anführer der Gruppe und ein Priester von Cinos Museumsidee, ernennen ihn kurzerhand zum Kurator und lassen beide, als sie weiterziehen, mit einem Auftrag zurück: Cino soll weiter die konservierte Vergangenheit verwalten, Dora soll ihr gemeinsames Kind austragen. Während Cino selbst es kaum erwarten kann, seine Freundin zu schwängern, verhält die sich abweisend und reserviert, verweigert ihm schließlich den Sex, um zu verhindern, dass es zu einer Befruchtung kommt. Noch komplizierter wird die Situation, als eine umherstreifende, namenlose Frau zu ihnen stößt, die Cino eindeutige Avancen macht, und scheinbar mehr als willig ist, mit ihm für Nachwuchs zu sorgen. Neben der schlafenden Dora kommt es zum Geschlechtsakt zwischen ihr und Cino. Als die Fremde kurz darauf versucht, Dora vollends aus dem Weg zu räumen und mit einem Ast zu erschlagen, schafft die es, ihre Gegnerin ihrerseits zu ermorden, zerstückelt sie und setzt Cino, der sich über das Verschwinden der Frau wundert, ihr köstlich zubereitetes Fleisch vor. Auch damit, dass sie ihre Rivalin aus dem Weg räumt, schafft es Dora allerdings nicht, den Kinderwunsch in ihrem Freund zu ersticken…

IL SEME DELL’UOMO ist das Produkt eines freien Kinos, das sich über sämtliche Genregrenzen und Konventionen hinwegsetzt, dazu ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie groß der Einfluss Jean-Luc Godards in den späten 60ern auf das europäische Autorenkino gewesen sein muss. Ähnlich wie Bertolucci in seinem ein Jahr zuvor abgedrehten PARTNER zeigt sich auch Ferreri eindeutig von dem französischen Regisseur inspiriert. Natürlich rutscht die Inspiration nie in die Gefilde reinste Imitation ab, und IL SEME DELL’UOMO ist durch und durch ein eigenständiges Werk, nichtsdestotrotz sind die Querverweise zu Godard nicht von der Hand zu weisen, schlagen sich dabei in den unterschiedlichsten Einzelheiten nieder, von bestimmten Szenen über inhaltliche Details bis zu dem reinen Fakt, dass Godards damalige Lebensgefährtin Anne Wiazemsky die weibliche Hauptrolle übernahm. Am deutlichsten zitiert werden meiner Meinung nach Godards WEEK END sowie PIERROT LE FOU. Ähnlich wie Anna Karenina und Jean-Paul Belmondo sich in letzterem für eine kurze Weile in die Isolation zurückziehen und ihr Leben auf einer einsamen Insel verbringen, ziehen Cino und Dora es vor, der verseuchten, im Kollaps begriffenen Zivilisation den Rücken zuzukehren, und sich in dem verlassenen Strandhaus einzurichten, dessen Besitzer bereits von der Epidemie hingerafft wurde. Natürlich ist die Idylle auch hier eine trügerische. Rein äußerlich scheinen Cino und Dora sich spätestens seit dem Auftauchen des Coca-Cola-Ballons mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Schwerer als zu akzeptieren, dass ihr bisheriges Leben in Schutt und Asche untergangen ist, wiegt jedoch die Diskrepanz zwischen ihrer vehementen Ablehnung, ein Kind zu bekommen, und Cinos immer stärker werdendem Verlangen danach, sie zu schwängern. Weshalb genau Dora sich nun weigert, die Mutter seiner Kinder zu werden, spricht der Film, trotz oder gerade weil es eine seiner entscheidendsten Fragen ist, niemals offen aus. Man kann höchstens spekulieren, dass sie es, ähnlich wie bei der hinzukommenden Fremden, ablehnt, ihre Zweisamkeit mit Cino dadurch zu brechen, dass sie sie zum Trio aufstockt, oder aber, dass sie ihren ungeborenen Kindern ersparen will, in einer Welt wie dieser zu leben, wobei sich hier natürlich die Frage stellt, ob ihr Grauen vor der Welt daher rührt, dass die Zivilisation unterging, oder dass sich auch das Paradies, das sie zusammen mit Cino suchte und fand, als brüchig und problembehaftet erwies. Deutlich ist immerhin, dass Cino und Dora unterschiedlich mit ihrer Situation umgehen. Sie scheint sich eher in alles zu fügen, da Alternativen sowieso nicht mehr vorhanden sind, er indes geht völlig auf in seiner Rolle als Museumskurator und als Begründer eines neuen Menschenstamms. Während Cino sich in die Idee hineinsteigert, ein zweiter Adam zu werden, behagt Dora die Vorstellung nicht im Geringsten, seine Eva zu sein. Überdeutlich zeigt sich das an der fremden Frau, die Cino mit offenen Armen empfängt und scheinbar kein Problem mit der Vorstellung hat, sie anstatt von Dora zu schwängern, seine eigentliche Freundin zumindest in diesen Belangen durch die Fremde zu ersetzen, die Dora indes vollkommen ablehnt, und sie nach ihrem missglückten Mordanschlag schließlich zusammen mit Cinos ungeborenem Kind erschlägt, um sie ihm in Form eines leckeren Fleischgerichts vorzusetzen.

Godards WEEK END scheint zumindest in Ansätzen Pate für die Anfangsszenen gestanden zu haben, die von einer Welt handeln, der nur noch ein sanfter Stoß fehlt, und sie stürzt vollends in den Abgrund. Wie Godard ist auch Ferreri in seiner Darstellung der Apokalypse voller Ironie, kreiert zwar eine mehr als bedrückende Atmosphäre, lässt es sich aber nicht nehmen, einige Szenen in den Bereich der Groteske kippen zu lassen. Cinos und Doras Eintreffen in einer Militärstation, wo ihnen ihr Fahrzeug weggenommen wird, da die sie untersuchenden Ärzte und die Befehlshaber der Truppen der Meinung sind, an ihnen ein Exempel statuieren zu müssen, sie in die Einöde zu schicken, um zu schauen, ob es ihnen dort möglich sei, die Katastrophe zu überleben, sie sogar offen als Versuchskaninchen bezeichnen, hat das allein schon etwas äußerst Befremdliches, in Ferreris Inszenierungsweise fast schon Heiteres und Theatralisches, wird aber noch dadurch kontrastiert, dass im Hintergrund blutüberströmte Kinderleichen herumliegen, über die die Kamera wie beiläufig fährt. Die Gründe, weshalb die Gesellschaft kollabiert, scheinen vielfältig zu sein. Ferreri verweigert sich einer eindeutigen Antwort. Wie in Hanekes WOLFZEIT bricht die Katastrophe offenbar ohne Vorwarnung, ohne konkrete Ursache über die Menschheit herein, ist eine Summe vieler unterschiedlicher Auslöser, die Ferreri zumindest ansatzweise konkretisiert, wenn er seine Protagonisten zu Beginn mehrmals Fernsehsondersendungen sehen lässt, die vom Fortschreiten der Unglückswelle berichten, ein Stilmittel, das er wiederum mit Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD gemein hat. Zu sehen gibt es beispielsweise sowohl Originalaufnahmen aus Vietnam als auch fiktive Szenen von einem Rom, das aussieht wie nach einem Bombenangriff, und in dem Soldaten mit Schutzmasken, auch das ein Kippen ins Absurde, den sterbenden Papst auf einer Trage herumschleppen, von dem ein Interviewer verlangt, doch ein paar erbauliche Worte an die Zuschauer zu richten, der indes jedoch zu nichts mehr fähig ist als einem entrückten Stammeln.

Trotz dieser beiden für mich eindeutigen Bezugspunkten in Godards Oeuvre ist IL SEMO DELL’UOMO eine einzigartige Sammlung von verschiedenster Stimmungen und Referenzen, die jedoch stets ein homogenes Ganzes ergibt, und sich schlicht allen Einordnungsversuchen widersetzt. Der Film schöpft die Eigenheit der Kunst als Diskursform, die über vorhandene Dinge in einer Weise sprechen kann, die es zuvor nicht gab, vollends auf, indem er seinem Publikum nicht nur unterschiedliche Lesarten anbietet, sondern sie alle wie selbstverständlich vorlegt, sie ineinanderfließen und sich gegenseitig kommentieren lässt. IL SEMO DELL’UOMO ist natürlich einerseits eine harsche, zynische Gesellschaftskritik, ein Angriff auf Gott und Vaterland, der ganz unter den Eindrücken des Jahres 1968 steht, ein durchaus politischer Film, wenn auch viel offener und weiter gefasst als die politischen Filme eines Godards oder eines Bertoluccis. Offensichtlich sind ebenso die religiösen Bezüge, die Ferreri in sein Werk webt, erzählt er doch in gewisser Weise eine umgekehrte Schöpfungsgeschichte. Bei ihm steht die Apokalypse an erster Stelle, nach der Dora und Cino erst mal ziellos in einer versinkenden Welt umherirren, in der nichts mehr eine Bedeutung hat und der Sünde Haus und Hof offensteht, bis sie schließlich ihr Paradies finden, wo die äußeren Probleme zwar verstummen, ihre eigenen aber erst richtig anfangen, da der Schöpfungsakt, den Cino von Dora verlangt und der unter Umständen die gesamten bisherigen Ereignissen erneut in Gang setzen könnte, weil er Menschen hervorbringt, die die Welt in neuen Kriegen und Epidemien ein zweites Mal zerstören, zumindest einem Teil des Pärchens zuwider ist. Zugleich funktioniert der Film aber auch auf einer rein persönlichen Ebene, als ein nacktes Beziehungsdrama, in dem es um zwei Menschen geht, die sich immer mehr verlieren und keine Chance zur Einigung finden, nackt deshalb, weil Ferreri den Konflikt zwischen seinen Protagonisten völlig außerhalb jeglicher sozialer Milieus und äußerer Umstände darstellen kann, da die eben nicht mehr vorhanden sind. Diese vielen Möglichkeiten, sich dem Film interpretatorisch zu nähern, sorgen dafür, dass Ferreri sein Publikum ständig überrascht. Bedrückende Dokumentaraufnahmen, die die echten Toten echter Kriege zeigen, treffen auf poetische Szenen der Liebenden am Strand. Skurrile Momente wie die, in denen Cino sein Museumsinventar herrichtet, oder sich eine Frau aus Sand baut, und Anstalten unternimmt, ihre Vagina aus Körnern zu penetrieren, und ihre Brustwarzen aus Muscheln zu liebkosen, folgen auf garstige Gewaltdarstellungen wie Dora, die die getötete Fremde mit einem Beil zerhackt, was Ferreri relativ realistisch inszenierte, und mich an eine ähnliche Szene in Pasolinis MEDEA denken ließ. Bei all den superben Bildern hat mir eins jedoch am besten gefallen. Als Dora und Cino eines Morgens an den Strand gehen, hat das Meer ihnen ein Geschenk gemacht: ein gestrandeter Wal liegt austrocknend in der Sonne. Auch hier beweist sich die Verschiedenheit der Figuren. Cino, der das Tier übermütig besteigt und sich wie Kapitän Ahab fühlt, freut sich darüber, dass ihnen so unerwartet so viel Fleisch ins Haus flatterte. Dora hüllt sich in ihre Weste und flüstert, dass sie es für ein böses Omen halte, dass er von dem Wal heruntersteigen solle, dass sie zurück ins Haus wolle.

Nicht zuletzt ist IL SEMO DELL’UOMO trotz allen gesellschaftskritischen Anspruchs, trotz aller mythologisch-religiöser Überfrachtung, trotz all der Gewalt und der Destruktiv, trotz seines beklemmenden Endes, jedoch auch ein witziger Film. Besonders amüsant fand ich beispielsweise, dass der ehemalige Besitzer des Hauses Marco Ferreri selbst ist, der bei der Ankunft von Dora und Cino als Leiche in einem Lehnstuhl vor der Tür sitzt. Im Folgenden scheint Cino sich dem Toten zumindest optisch annähern zu wollen, und lässt sich den gleichen schmucken Backenbart wachsen. Auf der Tonspur erlaubt sich Ferreri jedoch die meisten Späße. Zu harmloser Popmusik, die in voller Lautstärke durch die Boxen dröhnt, fahren die Liebenden zu Beginn durch eine trostlose, vom Untergang gezeichnete Welt. Später, wenn sie den Coca-Cola-Ballon am Himmel entdecken, wird die gesamte Szene mit eher unpassendem Jazz unterlegt. Möwengekreisch und Tiergeräusche sind teilweise selbst in geschlossenen Räumen überlaut zu vernehmen. Das alles beweist nur, dass Ferreri mit diesem Film ein Werk gelang, das zeigt, zu was Kino alles fähig ist. Und Marco Margine, der offenbar in keinem andern Film mehr auftrat, als Cino macht seine Sache ebenso gut wie Anne Wiazemsky, in die man sich sowieso jedes Mal neu verlieben könnte. Nein, ich kann gar nicht anders, als IL SEMO DELL’UOMO mit der Höchstnote zu versehen.

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