2002 debütierte Regisseur Lucky McKee mit der herausragenden zeitgemäßen „Frankenstein”-Variante „May“, welche beinahe augenblicklich Kult-Status erlangte und der Filmwelt zugleich eine neue Entdeckung präsentierte – nämlich Hauptdarstellerin Angela Bettis, die bis dato nur wenigen Zuschauern aufgefallen sein dürfte (beispielsweise in Produktionen wie „Bless the Child“ oder „Girl, Interrupted“). Ein Dream-Team war geboren, das sich seither zweimal bewährt hat: In der 2006er Veröffentlichung „the Woods“ war Angela zwar bloß in der Originalfassung stimmlich vertreten, im selben Jahr lieferten sie allerdings mit dem „Masters of Horror“-Beitrag „Sick Girl“ die wohl beste Folge der ersten Staffel jener Serie ab und bewiesen so erneut anschaulich ihr jeweiliges Talent. Nebenbei gingen sie gemeinsam ein weiteres Projekt an, mit dem Lucky bereits seit seiner Zeit auf der Filmhochschule schwanger ging: „Roman“. Bei der Inszenierung dieses düsteren Psychodramas, das man problemlos als eine thematische Ergänzung bzw Variation seines Erstlingswerks ansehen kann, ging das vertraute Zweiergespann jedoch das Risiko ein, ihre bisherigen Tätigkeitsfelder zu verlassen – vorliegend spielt McKee die Titelrolle, während Bettis die Umsetzung des Skripts aus der Feder ihres kreativen Partners übernahm…
Roman (McKee) ist eine ruhige, introvertierte Person, die als Schweißer arbeitet und ein sehr zurückgezogenes, in sich gekehrtes Leben führt – ein Single ohne feste soziale Kontakte, der von seinen Kollegen immerzu (meist zwecks Belustigung) in den Pausen von der Seite aus angequatscht wird, eben weil er so merkwürdig eigenbrötlerisch daherkommt und nicht einmal einen Fernseher besitzt, was natürlich die Frage heraufbeschwört, wie er eigentlich seine ganze Freizeit daheim verbringt. Jeden Abend gegen halb sechs, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt sowie ein Bier geöffnet hat, zieht er die Gardinen seines großen Appartementfensters zur Seite, setzt sich auf die Couch davor und beobachtet die Heimkehr einer im selben Gebäude wohnenden jungen Dame (Kristin Bell). Von sich aus würde er sie nie ansprechen – sie stellt eine zuträgliche Konstanz dar, die ihn auch in seinen Gedanken besucht und auf diese Weise gar ein Stück weit glücklich macht. Als er mal zu einer späteren Stunde auf dem Dach sitzt, die Skyline betrachtet, raucht und etwas trinkt, verwickelt sie ihn unerwartet in ein Gespräch, da sie genauso die Ruhe jenes Ortes aufgesucht hatte – und tatsächlich sind sie sich auf Anhieb sympathisch. Ihren Erzählungen lauscht er interessiert, seine Komplimente scheinen ihr ebenfalls zu gefallen, denn sie sind ehrlich gemeint, was ihr unstreitig bewusst ist. An einem anderen Tag besucht sie ihn dann in seiner Wohnung: Es kommt zu einem Kuss, sie bietet ihm ein Dinner in naher Zukunft an. Im Zuge des Augenblicks, in Kombination mit der Angst, dass diese entstandene Stimmung bis dahin irgendwie verblassen könnte, versucht er sie dazu zu drängen, heute noch mit ihm auszugehen – was sie allerdings nicht möchte. Während des Bestrebens, ihr Gehen abzuwenden, kommt es zu einem Handgemenge: Sie stürzen zu Boden, beidseitige Panik keimt auf. Um sie am Schreien zu hindern sowie ruhig zu halten, überdeckt er ihren den Mundbereich mit seiner Hand – bis irgendwann ihre Gegenwehr schlussendlich nachlässt und er erschrocken feststellen muss, dass sie tot ist…
Da er ihren Leichnam nicht ungesehen fortschaffen kann, legt er ihn in seiner Dusche ab, welche er in Folge dessen mit viel Eis, Folie und einer Menge Lufterfrischer zu ihrem Ruheplatz umfunktioniert. Seine Tat belastet ihn schwer – die Erinnerung an sie hält er permanent aufrecht, um ihr Andenken zu wahren sowie sich selbst sein Tun vorzuhalten. Eines Tages tritt eine andere Frau in seine Existenz: Eva (Nectar Rose), eine quirlige, freundliche Künstlerin, die sich ausgesperrt hat und ihn nun darum bittet, den schmierigen Vermieter (Ben Boyer) für sie auf ein Öffnen der Tür anzusprechen. Nach und nach sucht sie immer stärker den Kontakt zu Roman, welcher sie ebenfalls mag, aber jegliche Nähe vermeiden will, da er sich selbst nicht für das Getane vergeben kann. Eva allerdings lässt nicht locker, und irgendwann willigt er schließlich ein – sie sehen sich eine Theatervorstellung von Henrik Ibsen’s „Hedda Gabler“ an, ihr entwaffnender Charme beginnt Wirkung zu zeigen. Besteht wohlmöglich doch die Chance eines Neunfangs für ihn? In diesem Sinne zerteilt er Isis´s Körper (so nennt er sie inzwischen) und bringt sonntags jeweils ein Stück zu einem abgelegenen See weit außerhalb der Stadt, wo er viel Zeit verbringt (fast schon rituell, quasi zum Abschied) und die Teile am Ende jeweils besiegelnd im Wasser versenkt. Langsam gelangt er durch Eva in so etwas wie ein normales Leben. Nur das Thema „Tod“ sorgt zwischen ihnen für Spannungen, denn ihre Arbeit und Einstellung dreht sich primär genau darum – sie analysiert die Menschen um sich herum, lehnt selbstauferlegte geistige Einschränkungen vehement ab. Kann diese fragile Beziehung gut gehen – mit seiner Vergangenheit und ihren speziellen Faibles, wie jeden Samstag zum Chili-Dog-Essen auf den Friedhof zu gehen oder das Ende des Seins prinzipiell als einen natürlichen, nächsten Entwicklungsschritt permanent willkommen zu heißen…?
„Roman“ ist kein klassischer Horror-Film, sondern eine abgründige Charakterstudie über einen einsamen sozialen Außenseiter, der, so wie jeder andere ebenso, im Grunde nur gerne Anschluss finden und Glück erfahren möchte – bloß bislang halt nicht die richtigen individuellen Ansätze dafür zu entdecken vermochte, weshalb er lieber für sich allein bleibt, denn dieser Abstand gewährt ihm persönliche Sicherheit. Nebenan schaut sich der Hausverwalter den gesamten Tag lang Schmuddelfilme in höchster Lautstärke an – ihn darum zu bitten, den Ton zumindest geringfügig zu regulieren, das würde er nie wagen. Die Kantinenkonversationen, in deren Rahmen seine Kollegen stichelnd seine Eigenarten thematisieren, lässt er ruhig und geduldig über sich ergehen, greift das Gesagte aber dennoch nachträglich in seinen Gedanken wieder auf – nachdem sie ihn beispielsweise darauf angesprochen haben, warum er eigentlich keinen Fernseher besitzt, malt er sich abends aus Asche einen an die Wand. Seine Phantasie ermöglicht es ihm, zum Teil untrüglich zwanghafte Grenzen zu überwinden, ohne sich einer realen Gefahr auszusetzen, wie etwa Ablehnung zu erfahren oder verletzt zu werden. Er liest Männermagazine, erhält in seiner Vorstellung Besuch von jenen verführerischen Damen – bloß leisten sie ihm reine Gesellschaft, er stellt sich keinen Sex mit ihnen vor. Die Dinge, welche um ihn herum passieren, werden nur angesehen, ohne aktiv einzugreifen – bis er buchstäblich keine Wahl mehr hat, nämlich als „Isis“ von sich aus den ersten Schritt vollzieht. Seine Unerfahrenheit im Umgang mit anderen Personen sowie den in ihm aufbrodelnden Emotionen führt schließlich zur Tragödie. Einmal hat er nachgegeben – und das ist nun die Folge, das Resultat, die Konsequenz, welche ihn fortan innerlich zerfrisst, denn auch sie trägt er, vollkommen im Einklang mit seinem Wesen, nicht nach außen. Er straft sich selbst, schottet sich gar noch weiter ab – eine psychologisch perfekt nachvollziehbare Reaktion. Inmitten dieser Phase tritt Eva in sein Leben – wiederum ein Umstand, der nicht aus seiner Initiative heraus resultiert. Sie lässt nicht locker, trägt ein Lächeln, das Steine erweichen könnte, ist unglaublich liebenswürdig, zugleich hingegen keineswegs seichter Natur. Ist sie seine Rettung? Man freut sich unweigerlich mit Roman (dem Mann, der eine zerteilte Leiche in seiner Dusche aufbewahrt), als dieser sich endlich selbst einen Ruck gibt und ihre Nähe sucht, ja sogar um sie zu kämpfen beginnt. Er geht mit ihr aus, lässt sich in Mittagspausen-Gespräche einbinden – seine soziale Kompetenz potenziert sich bemerkbar. Aufgrund der erläuternden Umstände und seines so vortrefflich aufgezeigten Wesens gönnt man ihm (trotz seiner Tat) diese Chance, um welche man mit ihm förmlich bangt, wünscht ihm alles Gute – und da wir es hier mit einem waschechten Indie zutun haben, keiner kalkulierbaren Hollywood-Studioproduktion, ist der Ausgang der Geschichte beileibe nicht gewiss…
Als Student an der prestigeträchtigen „University of Southern California: School of Cinematic Arts“ schrieb Lucky seine Idee zu diesem Werk in Gestalt eines ersten Treatments nieder, auf dessen Basis er daraufhin das Drehbuch verfasste. Seither entstanden verschiedene Versionen des Stoffes, die bei ihm allerdings keinen echten Anklang fanden – das Bonusmaterial der US-DVD beinhaltet übrigens Auszüge aus zwei vorherigen Varianten, in denen andere Akteure den Titelpart verkörpern (Kevin Ford/Jesse Hlubik). Jene zwei Mimen wirken in den Aufnahmen wenig überzeugend, weshalb es sich, nicht nur angesichts dieser Ausgangslage, als einen vollendeten Glücksfall herausstellte, dass sich McKee und Bettis zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschieden und ihre bisherigen Positionen vor bzw hinter der Kamera tauschten: Beide machen ihre Sache jeweils richtig gut! Angela demonstriert, dass sie ein stimmiges Gefühl dafür aufweist, die gewünschten Einstellungen so zu arrangieren, dass sie wunderbar mit dem Grundton und gesamten Kontext harmonieren, Lucky überrascht mit einer feinfühligen, unaufdringlichen Performance. Sein Spiel wirkt absolut natürlich und authentisch – spezifische Nuancen veranschaulichen treffend, was alles gerade auf der anderen Seite der unscheinbaren Fassade geschieht. Sein Auftreten sowie gar Aussehen ruft einem leicht ins Bewusstsein, dass es in der Realität tatsächlich schweigsame, unscheinbare, stets abseits sitzende Leute wie Roman gibt – selbst der Ermittler im Film schenkt ihm kaum mehr als einen Moment an Aufmerksamkeit. Seiner Persönlichkeit genau gegenüber steht die bezaubernde Nectar Rose („Serenity“/„the Hazing“) als Freigeist Eva, die offen mit ihren Gedanken und Empfindungen umgeht und sich ihm relativ zügig anvertraut, da sie in ihm mehr sieht, als selbst er zu erkennen vermag. Jedes Mal, dass Eva die Bildfläche betritt, ist man gebannt von ihrer lebensfreudigen, erotischen, beinahe Elfen-haften Ausstrahlung, was außerdem ihre Vorliebe für ausgefallene Frisurkreationen, in denen sie selbst Pflanzen-Elemente integriert, verstärkt. Sie zelebriert das Jetzt, weil sie keine Angst vor dem hat, was danach folgt. Ihrem Reiz kann man sich nicht entziehen, Nectar sei Dank – sie strahlt solch einen positiven Funken aus, dass dieser selbst Roman´s Schutzhülle durchdringt. Kristen Bell (TV´s „Veronica Mars“/„Pulse“) vermittelt während ihrer eingeschränkten Screen-Time den nötigen nachhaltigen Eindruck, damit eben dieser im weiteren Verlauf nicht verblasst, sondern konstant im Hinterkopf des Betrachters verbleibt. „Isis“ ist freundlich, süß und charmant – ihr jungendliches Alter und liebreizender Charakter verleihen ihrem Hinscheiden eine zusätzlich tragische Note. Die Hauptprotagonisten tragen mit ihren überzeugenden Leistungen definitiv stark zum Erfolg dieser kleinen Produktion bei, welche sich zugleich auch voll und ganz auf ihre drei Leads verlassen musste.
„Roman“, dessen Budget man irgendwo in der Nähe einer bescheidenden Viertelmillion Dollar beziffert, ist ein Indie, wie er im Buche steht – dies wird einem allein schon angesichts der Bild- und Tonqualität augenblicklich gewahr: Größtenteils verließ man sich auf eine natürliche Beleuchtung, nutzte eine grobe DV-Optik, welche ein Homevideo-Camcorder-Feeling heraufbeschwört, und bearbeitete den Ton kaum nach, wodurch Hintergrundgeräusche (Verkehrslärm etc) dienlich dazu beitragen, einen rundum realistischen Eindruck zu erzeugen, der manchmal einen fast dokumentarischen Touch aufweist – wenn nicht gerade mehrere Images übereinander gelegt wurden, um eine bestimmte Gemütsregung zu unterstreichen, wahlweise surreal und/oder nüchtern veranschaulichend. Die inspiriert ausgewählte Musikuntermalung, poetisch eingefangenen Impressionen (wie seine Stunden am See) sowie der ungewöhnliche, mir mit Ausnahme einer Szene (dem Verstecken eines Beins) sehr zusagende (überwiegend subtile) Humor vervollständigen die gelungene Atmosphäre, welche die Story nie zu übertünchen versucht, sondern sie allezeit unterstützend begleitet. Das Tempo ist ruhig und zieht einen mit jeder fortschreitenden Minute stärker in den Bann der Geschichte, weil man immer mehr über Roman erfährt, ihn zu verstehen anfängt und gar Sympathien für diesen Mörder erkeimen. All das mündet in einem brillanten Ende, das einen sehr ähnlichen Effekt wie das von „May“ auslöst, ohne jemals den realistischen Pfad zu verlassen. Diese Aussage bringt mich zwangsläufig zu dem unausweichlichen Vergleich: Roman wünscht man nichts weiter als ein normales Leben, was im Ansatz ernsthaft zu glücken scheint, je weiter seine Beziehung zu Eva gedeiht. May hingegen geht einen anderen, im Grunde genau konträren Weg: Sie sammelt Körperteile, statt sie zu entsorgen, tötet bewusst, also auf der Basis einer Absicht, und gleitet stetig in einen Zustand des Irrsinns ab. Technisch vollkommen verschieden, behandeln beide Filme im Kern dieselben Themen: Leben und Tod, Obsession, Verzweiflung, Einsamkeit, Isolation, der Wunsch nach Zuneigung und Dazugehörigkeit. Sie ergänzen sich, kopieren sich in keinerlei Form, können demnach perfekt koexistieren. Meiner Meinung nach darf Lucky McKee´s „May“ in keiner gut sortierten Sammlung fehlen – und der Platz gleich daneben sollte unbedingt Angela Bettis´ „Roman“ gehören…
starke „8 von 10“