Jahrzehntelang gab es ein gleichbleibendes inneres Gleichgewicht im Machtgefüge der Menschen im westlichen Europa. Durch die sozialen Errungenschaften nach dem 2.Weltkrieg hatten sich viele Mißstände zumindest verringert ,während die eigentlichen Probleme weit entfernt schienen. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs sind die grossen infrastrukturellen und finanziellen Unterschiede zum ehemaligen Ostblock unmittelbar an unsere östliche Grenze gerückt. Dank politischer Festreden und ausführlicher Berichterstattung über die kriminellen Folgen dieser "Zusammenführung" gibt es zwar ein diffuses Bewusstsein im Kopf der Westeuropäer, aber tatsächlich vertraut mit den üblen Folgen für unsere Sozialisation und unser Wertebewusstsein ist fast Niemand.
Ulrich Seidls "Import/Export" war dementsprechend überfällig und seine Herangehensweise an diese Thematik ist exemplarisch. Traditionell dem Dokumentarfilm verbunden, konfrontiert er den Betrachter mit frappierender Authentizität. Beginnend mit den Plattenbauwohnungen in der Ukraine, der geriartrischen Klinik in Wien, den Slums in der Slowakei oder dem Hotel und der Disco zum Schluss wieder in der Ukraine, sind sämtliche Szenen an Originaldrehorten entstanden, ohne dass Seidl irgendwelche Veränderungen vorgenommen hat. Ähnliches gilt für die Darsteller, bei denen es sich zum grössten Teil um Laien handelt (bei aufmerksamer Betrachtung der Credits im Abspann fallen die vielen Kreuze hinter den Namen der alten Menschen auf, die Seidl an ihr Bett gefesselt in der Klinik filmte), die hier ihre eigene Situation nachspielen.
Das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Seidl seinen Film in ästhetischer und erzählerischer Hinsicht bis ins Detail gestaltet hat und eine eindeutige Intention verfolgt. Der Westen unterscheidet sich optisch nur im Detail vom Osten, denn Seidl wählte in seinem Film ausschliesslich kühle, karge und fast farblose Orte. Nicht ohne Grund siedelt er seine Story während des Winters an, womit sich die Monochromität auch auf die verschneite und vereiste Umgebung und Natur überträgt. Nur im Zustand unterscheiden sich diese beiden Welten, wobei die sauberen, intakten Oberflächen aus Putz, Fliesen und Beton genauso unmenschlich wirken wie der völlig marode Zustand des Ostens.
Inszenatorisch wählte er eine Mischung aus Parallelität und Wechselwirkung. Die zwei Erzählstränge haben scheinbar keine Berührungspunkte, verlören aber ohne ihre verzahnte Schilderung, die ständig zwischen den beiden sich nie begegnenden Protagonisten Olga (Ekateryna Rak) und Pauli (Paul Hofmann) hin und her springt, ihre frappierende Wirkung. Denn tatsächlich gibt es eine schmerzhafte Verschmelzung zwischen den zwei Lebenswegen, die verdeutlicht, dass der "Import/Export" zwischen Ost und West nicht nur in praktischen Berührungspunkten wie dem Austausch von Kapital oder Arbeit Realität ist, sondern die verschüttet geglaubten Abgründe unserer westlichen Sozialisation wieder hervorrufen.
Um das zu verdeutlichen überschreitet Seidl in seinem dokumentarisch-inszenatorischen Stil Grenzen und zeigt Dinge, deren Realität kaum Jemanden verborgen geblieben ist und die trotzdem tabuisiert werden. Während die ersten Szenen in dem ukrainischen Krankenhaus, in dem Olga als Krankenschwester arbeitet, in der Primitiviät der technischen Ausstattung und der hygienischen Verhältnisse noch vertraut sind - genauso wie der Fakt, dass sie dafür nur 30% ihres normalen Gehaltes ausgezahlt bekommt - so geht er mit der Beschreibung des Internet-Sex bewusst einen drastischen Weg.
In den Plattenbausiedlungen, in deren Hintergrund ständig riesige Kraftwerke rauchen, befindet sich in irgendeiner heruntergekommenen Wohnung ein Internetanbieter, wie es sie unzählige im ehemaligen Ostblock gibt. Die ukrainischen Frauen räkeln sich vor den Kameras und befriedigen sich gemäss der über ein Mikrofon geäusserten Wünsche der vor ihrem Computer sitzenden Männer. Die Zielgruppe ist deutschsprachig, was zu teilweise komischen Momenten führt, wenn die Ukrainerinnen ein paar deutsche rein sexuell orientierte Brocken lernen müssen, um sich über das Notwendigste verständigen zu können. Seidl hält bei diesen Szenen voll drauf und erspart dem Zuseher nichts. Man kann darüber diskutieren, ob diese Direktheit notwendig ist, aber die Mischung aus völliger Nacktheit, obszönen Bewegungen, aufwendiger Technik inmitten eines notdürftig gestrichenen Raumes und den bellenden Befehlen aus dem Mikrofon, die fast in Hysterie ausbrechen, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden, lässt erst in aller Deutlichkeit ein Bild der völligen Verschiebung der sozialen Verhältnisse entstehen.
Dabei verzichtet Seidl in seinem Film nicht nur auf jegliche Kriminalität oder übertriebene Gewaltanwendungen, sondern wählt ausschliesslich Menschen, die sich situationsbedingt völlig normal verhalten, womit er erst die unterschwelligen Machtansprüche kenntlich macht. Nachdem Olga bei ihrem Versuch des Internet-Sex gescheitert war, verlässt sie notgedrungen ihre Heimat und ihr Baby und geht zu einer Freundin nach Wien, die ihr geschrieben hatte. Sie erhält einen Job als Haushaltshilfe in einer Villa, der für ihre Verhältnisse gut bezahlt ist.
Das Verhalten der Hausherrin ihr gegenüber ist genau beobachtet und Niemand sollte annehmen, dass es sich dabei um eine extreme Ausnahme handelt. Im Gegenteil muss man ihr Höflichkeit und eine gewisse Fairness attestieren (so glaubt sie keinen Moment die Worte ihres Sohnes, als dieser behauptet, Olga hätte sein verschwundenes Handy gestohlen), aber das lässt ihre Geringschätzung gegenüber der jungen Frau aus der Ukraine nicht übersehen, die sie wie eine geistig minderbemittelte Sklavin behandelt. Diese Szenen sind deshalb so beeindruckend, weil Seidl vermitteln kann, dass hier eine kultivierte Frau der gehobenen Mittelschicht, die mit Sicherheit Wert auf gute Umgangsformen legt, nicht einmal merkt, wie inhuman und verächtlich sie sich verhält.
Die parallele Story um den jungen Wiener Pauli geht den entgegengesetzten Weg. Pauli verfügt zwar über die heutige technische Ausstattung, aber er hat Probleme sich durchzusetzen. Getreu seinem martialischen Aussehen, dass er durch ständiges Training zu betonen versucht, wählt er einen Job beim Sicherheitsdienst, an dem er schon nach kurzer Zeit scheitert. Seidl zeigt die westliche Welt zwar als infrastrukturell funktionierend, aber als einen Ort, in dem Emotionalität nur noch über den Austausch gegenseitiger Vorteile funktioniert. Dem stellt er immer wieder kurze Momente des Glücks inmitten der östlichen Armut gegenüber - sei es ein kleiner Tanz zwischen zwei Freundinnen, die Umarmung der Mutter gegenüber der weggehenden Tochter oder ein kurzes intensives Gespräch bei einer Zigarette.
Solche Situationen existieren im Westen gar nicht. Mit dieser einseitigen Schilderung, die Seidl im Umgang mit den bettlägerigen, alten Menschen in der geriartrischen Klinik hochstilisiert, indem er dort die menschenverachtende Behandlung mit drastischen, aber jederzeit realistischen Bildern zeigt, betont er die ungerechtfertigte Arroganz der westlichen Welt, die den "Import/Export" alleine als Austausch zwischen billiger Arbeitskraft und Geld versteht, aber nicht im Geringsten an einem gleichwertigen Kräfteverhältniss interessiert ist.
Grossartig gespielt und gestaltet ist in dieser Hinsicht die bemerkenswerteste Figur des Films, die erst ab der zweiten Hälfte Gewicht erhält - Michael (Michael Thomas), der Stiefvater von Pauli. Bei diesem handelt es sich um einen selbstverliebten, einfach gestrickten "Schönling", der sich viel auf seinen Erfolg beim anderen Geschlecht einbildet. Er muss in Osteuropa Automaten betreuen - veraltete Geräte, die in Österreich längst ausgemustert wurden - und nimmt seinen Stiefsohn mit, damit dieser ein paar Schulden abarbeitet. Michael ist keineswegs ein übler Typ, sondern jovial im Umgang und nicht ohne Witz. Auch seine Bemühungen um Pauli wirken nicht aufgesetzt, sind durchaus freundlich und in der Sache oft korrekt.
Doch mit völliger Selbstverständlichkeit lebt er seine Überlegenheit in den östlichen Ländern aus - eine Überlegenheit, die sich nur daraus erklärt, das selbst er, der in seinem Heimatland nur eine kleine Nummer ist, hier mit seinem Geld Macht ausüben kann. Wenn er mit seinem aufgesetzten Charme ein viel jüngeres Mädchen in einer Disco anspricht und diese selbstverständlich mit an die Bar kommt, dann erklärt sich das nur durch die völlige Verschiebung der sozialen Verhältnisse - sonst wäre diese Konstellation nicht möglich. Wenn Michael dann auf seinem Hotelzimmer eine nackte Prostituierte Hündchen spielen lässt - dabei immer freundlich im Umgangston - und diese jede Erniedrigung in der Hoffnung auf etwas Geld mitmacht, dann konfrontiert uns Seidl auch mit uns selbst und unseren eigenen Machtvorstellungen...
Fazit : Seidl wirft ein erschreckendes Bild auf die westliche Sozialisation, hier am Beispiel seines Heimatlandes Österreich. Dabei ist der Begriff "Import/Export" eher ironisch zu verstehen, da die westlichen Länder keineswegs an den osteuropäischen Menschen, sondern nur an der Ausbeutung menschlicher Ressourcen interessiert sind.
Trotz der drastischen Bilder und in der Intention gerechtfertigt einseitigen Darstellung ist Seidls Film nicht ohne Optimismus. So leidet Pauli an den eigenen Verhältnissen, erfährt aber Respekt, indem es ihm gelingt, sich von seinem Stiefvater zu emanzipieren. Ähnlich ergeht es Olga, die immer selbstbewusster ihre eigenen Emotionen lebt.
Ein kompromissloser, optisch und inhaltlich konfrontierender Film, der lange nachwirkt (9/10).