Lipstick (Eine Frau Sieht Rot) ist wohl der berühmteste und gleichzeitg kontroverseste Film, den Regisseur Lamont Johnson in seiner langen Karriere verwirklichte. Zuvor drehte er zwischen Mitte der 50er und 60er Jahre viele Episoden zahlreicher Serien, bevor er schließlich seinen ersten Langfilm realisieren konnte. Seine bekanntesten Werke sind dabei The McKenzie Break (Ausbruch Der 28) von 1970 mit Brian Keith und Helmut Griem und drei Jahre später The Last American Hero (Der Letzte Held Amerikas), den der junge Jeff Bridges darstellte.
Bei vorliegendem Film taucht er ins Fahrwasser der gerade populär gewordenen Selbstjustiz-Filme, deren bekanntester Vertreter sicher Don Siegel's Dirty Harry sein dürfte, der 1971 Clint Eastwood endgültig zum Superstar machen sollte. Im gleichen Jahr entstand auch Straw Dogs (Wer Gewalt Sät) unter der Regie von Gewalt-Spezialist Sam Peckinpah, in dem allerdings der Otto-Normalbürger in Gestalt von Dustin Hoffman solange gedemütigt wird, bis ihm der Kragen platzt. Ebenso verhält es sich mit dem im Grunde friedliebenden Charles Bronson in dem viel diskutierten Death Wish (Ein Mann Sieht Rot) von Michael Winner, der gleich in der ganzen Stadt aufräumt.
Mit letzterem Exemplar hat Lipstick jedoch nur seinen deutschen Titel gemein, mit dem der Verleih wohl seinerzeit an dessen großen Erfolg anknüpfen wollte. Hier geht alles etwas ruhiger und zurückhaltender vonstatten. Der Film nimmt trotzdem schnell Fahrt auf und steuert konsequent in seine vorgegebene Richtung, ohne viel drumherum zu reden. Viel Zeit wird hierbei auf die Psyche und Entwicklung der Charaktere verwendet, was vor allem in der Gerichtsverhandlung zum Ausdruck kommt, in der der Täter sich versucht herauszuwinden und dem Opfer die Schuld an seinem Handeln zuweist.
Sehr gute Darstellungen erleben wir hier von allen Beteiligten. Chris Sarandon, damals noch Ehemann von Susan Sarandon und kurz zuvor in Sidney Lumet's A Dog Day Afternoon (Hundstage) in seiner berühmtesten Rolle als schwuler transsexueller Freund von Al Pacino zu sehen, spielt den Triebtäter äußerst glaubwürdig- er scheint wirklich zu glauben, daß er im Grunde von dem Fotomodell dazu gezwungen wurde, Gewalt anzuwenden, da sie nicht freiwillig mit ihm ins Bett geht, obwohl sie ihn ja, seiner Meinung nach, mit ihren bei Fotoshootings üblichen erotischen Posen geradezu herausgefordert hatte. Schließlich gelingt es ihm sogar, die Jury von seiner Unschuld zu überzeugen, was schließlich...allerdings noch nicht...zur Eskalation der Gewalt führt, die sich in dem Opfer angestaut hat.
Was soll sie tun, um Gerechtigkeit zu erlangen? Vom Staat- stellvertretend durch das Gericht- der natürlich nur im seltensten Fall wirklich gerecht urteilt (sofern dies aus der Sicht des Opfers überhaupt möglich ist), bekommt sie sie nicht. Also muß selbst gehandelt werden! So die Devise der jeweiligen Opfer. Man erkennt gerade hier bei den gerichtlichen Verhandlungen, wie sehr Tatsachen und Wahrheiten verdreht werden und letzten Endes jede Partei nur gewinnen will-obgleich der Gerechtigkeit damit gedient wird oder nicht.
Gewinnen um jeden Preis! Denn im Grunde wird ja nur ein Urteil ausgesprochen, ohne zu wissen, was denn wirklich geschah-wurde er sexuell durch sie stimuliert oder wurde sie vergewaltigt? Die Geschworenen können es niemals wissen und somit wird ein Spiel entfacht, an dessen Ende nur eine der sich gegenüberstehenden Parteien mit Hilfe von Argumentationen, Fakten und Zeugenaussagen gewinnen kann. Wessen Auftritt hat dem Publikum-also der Jury-besser gefallen? Somit gleicht eine Gerichtsverhandlung eher einem Pferderennen, bei dem nur ein Pferd als erstes das Ziel durchschreitet. In diesem Fall unterliegt unser Lippenstift-Modell trotz ihres engagierten Jockeys-der namhaften und wie gewohnt gut agierenden Anne Bancroft. Die Ehefrau von Komikerlegende Mel Brooks-mit dem sie bis zu ihrem Krebstod 2005 über 40 Jahre verheiratet war und drei Filme drehte- wurde als Anna Maria Louisa Italiano (!) geboren und erhielt bereits 1963 einen Oscar für den herausragenden The Miracle Worker (Licht Im Dunkel), mit deren Darstellung sie bereits Ende der 50er Jahre auf der Theaterbühne glänzte, und wurde schließlich als verführerische Mrs. Robinson in The Graduate (Die Reifeprüfung) weltberühmt.
Als gedemütigte Opfer sieht man die beiden Hemingway-Enkelinnen Margaux und Mariel in ihrem jeweiligen Leinwanddebüt. Letztgenannte erhielt mit ihren gerade mal 14 Lenzen hierfür bereits u.a. eine Oscarnominierung, was sie 1979 mit Woody Allen's Manhattan wiederholen konnte! Danach machte sie, abgesehen von ein paar Rollen Anfang der 80er Jahre, filmisch leider nicht mehr viel von sich Reden, wirkt aber bis heute in dem einen oder anderen Filmchen mit.
Ihrer sechs Jahre älteren Schwester, die auch im wirklichen Leben als Fotomodell begann, erging es wesentlich schlechter. Abgesehen von einer katastrophalen Filmauswahl, versank sie ab Ende der 70er Jahre immer mehr im Alkohol, scheiterte in den 80ern bei dem Versuch einer Entziehungskur und nahm sich schließlich 1996 am Todestag des berühmten Großvaters das Leben.
Bleibt noch zu erwähnen: in einer kleinen Nebenrolle Perry King, der später mit der beliebten Fernsehserie Riptide (Trio Mit Vier Fäusten) als der Hübsche mit dem Schnurrbart zu bewundern war. Seine bekanntesten Filmrollen hatte er jedoch auch in den 70ern. So stellte er sein Können in Richard Fleischer's Mandingo oder Robert Aldrich's The Choirboys (Die Chorknaben) unter Beweis und war auch in dem seltsamen Bad (Andy Warhol's BAD) mit von der Partie.
Insgesamt ist mit Lipstick ein recht ausgewogener Film zum brisanten Thema Selbstjustiz gelungen (was vor allem auch an den durchweg guten Schauspielerleistungen liegt), der sich nicht in die Gewaltorgien früherer Vertreter einreiht (so z.B. Wes Craven's ultrabrutaler The Last House On The Left von 1972) und der dennoch eine eindeutige Botschaft vermittelt, die nicht allen Zuschauern gefallen dürfte. Das liegt natürlich immer an der jeweiligen Art und Weise, diesen Film zu betrachten-denn obwohl auch hier das Opfer Recht und Gesetz selbst in die Hand nimmt, ist ihre Motivation natürlich jederzeit nachvollziehbar und die finale Kulmination der Gewalt ihre persönliche logische Konsequenz, sich letztendlich entgegen aller staatlich verordneten Regeln mit Gegengewalt doch noch Gerechtigkeit zu verschaffen.
Auch wenn der Schluß etwas konstruiert erscheint, muß man dem Film jedoch zu Gute halten, daß die Handlungsweise eines psychopathischen Triebtäters natürlich nicht vorherzusehen ist. Die daraus resultierende völlige Verzweiflung und Hilflosigkeit der Protagonistin-unterstützt durch die für sie sinnlose Gerichtsverhandlung- werden durch das abrupte Ende noch unterstrichen.
Einer der besseren Filme zu einem zwiespältigen Thema.
7,5 / 10 Punkte