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von Stefan M

Interview Hitchcock/Truffaut

Truffaut: Ich kann es kaum mehr abwarten, daß wir zu “Notorious” kommen, weil ich den von Ihren Filmen am liebsten mag, auf jeden Fall von Ihren Schwarzweißfilmen. “Notorious” ist Hitchcocks Quintessenz.

Hitchcock: Als wir anfingen, “Notorious” zu schreiben, als ich mit Ben Hecht zu arbeiten begann, haben wir uns auf die Suche nach einem MacGuffin gemacht. Wie häufig, ging das zunächst nur stockend, und wir haben nach viel zu komplizierten Lösungen gesucht. Das Prinzip des Films war schon vorhanden: die Heldin - Ingrid Bergman - mußte sich in Begleitung des FBI-Agenten Cary Grant nach Lateinamerika begeben, in das Haus einer Nazigruppe eindringen und herausbekommen, was da geschah.

Anfangs haben wir Regierungsbeamte, Polizisten und Gruppen von Deutschen in die Geschichte hereingebracht, die nach Lateinamerika geflüchtet sein sollten und in verborgenen Lagern eine Geheimarmee ausrüsteten. Aber wir hatten keine Ahnung, was wir mit dieser Armee machen sollten, wenn sie erst aufgestellt wäre. So haben wir sie wieder zum Teufel geschickt und uns für einen ganz einfachen, aber konkreten und visuellen MacGuffin entschieden: eine Uraniumprobe in einer Weinflasche.

Zu Beginn hatte der Produzent mir eine altmodische Geschichte gegeben, eine Erzählung aus der “Saturday Evening Post”, mit dem Titel “The Song of the Flame”. Sie handelte von einem Mädchen, das sich in einen jungen Mann der New Yorker Gesellschaft verliebt. Das Mädchen gerät in einen Gewissenskonflikt: in ihrer Vergangenheit gab es einen dunklen Punkt, und sie fürchtet, der junge Mann oder seine Mutter könnten etwas davon erfahren, und mit ihrer großen Liebe wäre es dann aus. Was war nun der dunkle Punkt in ihrer Vergangenheit? Während des Krieges war die Spionageabwehr zu einem Impresario gegangen, um eine Schauspielerin zu finden, die bereit war, als Geheimagentin zu fungieren und mit einem Spion zu schlafen, um bestimmte Informationen zu bekommen. Man hatte sie vorgeschlagen, sie hatte akzeptiert und hatte es getan. Jetzt hat sie große Angst und geht zu dem Impresario, um ihm von ihren Ängsten zu erzählen. Zum Schluß der Geschichte geht der Impresario zur Mutter des jungen Mannes und erzählt ihr alles, und sie sagt ganz vornehm: “Ich hatte mir immer gewünscht, daß mein Sohn ein wirklich ordentliches Mädchen heiratet, aber ich habe nicht zu hoffen gewagt, daß er ein so ordentliches Mädchen finden würde.”

Das war also die Idee für einen Film mit Ingrid Bergman und Cary Grant, Regie Alfred Hitchcock. Ich setze mich mit Ben Hecht zusammen, und alles, was wir von der Geschichte behalten, ist, daß ein Mädchen mit einem Spion schlafen muß, um Informationen zu bekommen. Wir reden weiter, Ben Hecht und ich, und dann bringe ich den Uranium-MacGuffin hinein, vier oder fünf Proben, die aussehen wie eine Art Sand in Weinflaschen.

Der Produzent meint dazu: “Um Himmels willen, was soll denn das?” Meine Antwort: “Das ist Uranium, vielleicht soll damit eine Atombombe gemacht werden.” Er fragt: “Was denn für eine Atombombe?” Das war 1944, ein Jahr vor Hiroshima. Ich hatte nur einen Hinweis, eine Spur. Ein Schriftsteller, mit dem ich befreundet war, hatte mir erzählt, irgendwo in der Wüste von New-Mexiko arbeiteten Wissenschaftler an einem geheimen Projekt, das so geheim sei, daß man sie, wenn sie in den Fabriken drin wären, nie wieder rausließe. Ich wußte außerdem, daß die Deutschen in Norwegen Experimente mit schwerem Wasser machten, und das hat mich auf meinen Uranium-MacGuffin gebracht. Der Produzent war völlig außer sich. Die Geschichte mit der Atombombe schien ihm zu absurd als Ausgangspunkt für eine Geschichte. Ich sagte ihm: “Das ist doch nicht der Ausgangspunkt, das ist nur der MacGuffin”, und erklärte ihm, was der MacGuffin ist und wie wenig Bedeutung er hat. Schließlich sagte ich ihm: “Wenn Sie das Uranium nicht mögen, können wir auch Industriediamanten nehmen. Wir nehmen einfach an, sie wären von lebenswichtigem Interesse für die Deutschen, zum Beispiel um Werkzeuge damit zu schneiden. Wenn unsere Geschichte nicht mit dem Krieg zu tun hätte, hätten wir vielleicht etwas mit einem Diamantendiebstahl gemacht, aber das ist doch alles ganz unwichtig.” Ich habe die Produzenten nicht überzeugen können, er hat uns zwei Wochen später an die RKO verkauft: Ingrid Bergman, Cary Grant, das Drehbuch, Ben Hecht und mich, alle in einem Paket.

Jetzt muß ich Ihnen das Ende des Uranium-MacGuffin erzählen, und das spielt vier Jahre nach dem Start von “Notorious”. Ich reise auf der Queen Elizabeth und treffe da einen Teilhaber des Produzenten Hal Wallis, einen Mann namens Joseph Hazen. Er sagt zu mir: “Ich habe Sie schon immer fragen wollen, wie Sie ein Jahr vor Hiroshima auf die Geschichte mit der Atombombe gekommen sind. Als man uns das Drehbuch von “Notorious” angeboten hat, haben wir abgelehnt, weil wir fanden, daß das wirklich eine denkbar idiotische Basis für einen Film wäre.”

Nun wieder eine Rückblende in die Zeit vor den Dreharbeiten zu “Notorious”. Ben Hecht und ich sind zum California Institute of Technology nach Pasadena gefahren, um Dr. Millikan zu treffen, den größten amerikanischen Gelehrten damals. Wir wurden in sein Büro geführt, und da stand in einer Ecke eine Büste von Einstein, sehr eindrucksvoll. Die erste Frage, die wir ihm gestellt haben, war: “Dr. Millikan, eine Atombombe, wie groß wäre die?” Er hat uns angeschaut: “Wollen Sie, daß man Sie verhaftet und mich gleich mit?” Und eine Stunde lang hat er uns erklärt, wie total unmöglich es sei, eine Atombombe herzustellen, und er schloß: “Wenn wir nur erst den Wasserstoff nutzbar machen könnten, dann wären wir schon viel weiter.” Als wir gingen, glaubte er, uns überzeugt zu haben, aber später habe ich erfahren, daß der FBI mich drei Monate lang hat überwachen lassen. Wieder zurück aufs Schiff und zu Mr. Hazens Ausspruch: “Wir dachten, Uranium wäre eine denkbar idiotische Basis für einen Film.” Ich habe ihm darauf geantwortet: “Das beweist nur, wie Unrecht Sie haben zu glauben, der MacGuffin sei von Bedeutung. In “Notorious” geht es einfach um einen Mann, der verliebt ist in eine Frau, die in offiziellem Auftrag mit einem anderen Mann geschlafen hat und gezwungen wurde, ihn zu heiraten. Das ist die Geschichte. Ist Ihnen Ihr Irrtum jetzt klar, durch den Sie soviel Geld verloren haben, da der Film, der zwei Millionen Dollar gekostet hat, einen Reingewinn von acht Millionen gebracht hat?”

Truffaut: Es war ein großer Erfolg. [...] “Notorious” ist in der ganzen Welt immer wieder herausgebracht worden, sehr zu meiner Freude, weil er auch nach zwanzig Jahren noch außerordentlich modern geblieben ist. Er besteht aus nur wenigen Szenen und ist von einer phantastischen Reinheit. Der Aufbau des Drehbuchs ist mustergültig.

Ich will damit sagen, daß Sie in diesem Film mit einem Minimum an Elementen ein Maximum an Effekten erzielt haben. Alle Suspense-Szenen beziehen sich auf zwei Gegenstände, die immer dieselben bleiben: der Schlüssel und die falsche Weinflasche. Die Liebesgeschichte ist die einfachste von der Welt: zwei Männer sind in eine Frau verliebt. Von all Ihren Filmen stimmt meiner Meinung nach das, was Ihnen vorschwebte, in diesem am vollkommensten überein mit dem, was auf der Leinwand als Resultat zu sehen ist. Ich weiß nicht, ob Sie schon damals eine Einstellung vorher genau zeichneten, aber man hat den Eindruck, als sei der Film so genau und kontrolliert wie ein Zeichenfilm. Wahrscheinlich ist “Notorious” so perfekt, weil er das Äußerste an Stilisierung und zugleich das Äußerste an Einfachheit ist.

Hitchcock: Die Einfachheit... das ist interessant; komisch, daß Sie das auch finden. Unsere Bemühungen gingen wirklich in diese Richtung. In Agentenfilmen gibt es sonst viele Momente der Gewalt, das haben wir hier alles vermieden. Die Mordmethoden, die wir anwandten, waren außerordentlich einfach, fast möchte ich sagen normal, wie aus der Lokalchronik, wie aus dem Leben. Claude Rains und seine Mutter vergifteten Ingrid Bergman ganz langsam mit Arsen, genau wie ein Mann das macht, der seine Frau umbringt, auf eine, wenn ich so sagen darf, authentische Art. So wie man jemand in seine Gewalt zu bringen versucht, ohne daß es bemerkt wird.

Wenn sonst in Filmen Agenten jemand loswerden wollen, dann machen sie keine langen Geschichten, sie erschießen ihn mit dem Revolver oder bringen ihn im Auto an eine entlegene Stelle und schlagen ihn nieder, oder sie lassen seine Leiche in einem Auto über eine Klippe stürzen, damit es nach einem Unfall aussieht. Stattdessen wollte ich Bösewichter zeigen, die auf eine vernünftige Weise böse handeln.

Truffaut: Das stimmt, sie sind ausgesprochen besonnen, sehr menschlich, und sie wirken verletzlich. Sie verbreiten Angst, aber man spürt auch, daß sie Angst haben.

Hitchcock: Genau das war mein Prinzip. Und zwar systematisch den ganzen Film hindurch. Denken Sie mal an die Szene, in der Ingrid Bergman Cary Grant in der Stadt trifft, nachdem sie den ersten Teil ihres Auftrags erfüllt hat: Beziehungen anzuknüpfen mit Claude Rains. Sie sitzt neben Cary Grant, sie erzählt von Claude Rains und sagt: “Er will mich heiraten.” Ich habe hier einen ganz gewöhnlichen, ganz einfach gesprochenen Dialog benutzt, aber wie die Szene aufgebaut ist, das widerspricht dieser Einfachheit. Im Bild sind nur zwei Personen, Cary Grant und Ingrid Bergman, und die ganze Szene dreht sich um das “Er will mich heiraten.” Man könnte meinen, es sei darauf angekommen, eine Art gefühlsbetonten Suspense aufkommen zu lassen: Wird Ingrid sich von Claude Rains heiraten lassen oder nicht? Aber das genaue Gegenteil ist der Fall, die Antwort auf diese Frage hat überhaupt keine Bedeutung. Sie gehört nicht zu der Szene - das Publikum muß überzeugt sein, daß die Hochzeit stattfinden wird. Ich habe absichtlich das beiseite gelassen, was der entscheidende Faktor zu sein scheint, denn die Emotion kommt nicht aus der Frage, ob Ingrid Claude Rains heiraten wird, sondern aus der Tatsache, daß dieser Mann, mit dem sie schlafen sollte, um gewisse Informationen zu bekommen, wider alles Erwarten um ihre Hand angehalten hat.

Truffaut: Wenn ich Sie recht verstehe, entscheidend ist nicht die Antwort, die Ingrid Bergman ihm auf seinen Heiratsantrag geben wird, sondern der Umstand, daß ihr dieses unerwartete Angebot gemacht worden ist.

Hitchcock: Genau das ist es.

Truffaut: Das ist eine ausgezeichnete Idee. Dieser Heiratsantrag wirkt tatsächlich wie eine Bombe, umso mehr, als es sonst in Agentenfilmen kaum um Heirat geht.

Und noch etwas, das man später in “Under Capricorn” [“Sklavin des Herzens”] wiederfinden wird: der unbemerkte Übergang von Trunkenheit zu Vergiftung oder vom Alkohol zum Gift. Das zweite Mal, wenn Ingrid Bergman und Cary Grant sich in der Stadt treffen, fühlt sie sich wegen des Arsens schon schlecht, und Cary Grant, der glaubt, sie sei wieder ihrer alten Trunksucht verfallen, behandelt sie verächtlich. Das ist ein Mißverständnis von großer dramatischer Kraft, mich ergreift das jedesmal.

Hitchcock: Das war für mich auch sehr wichtig, diese gradweise Vergiftung, die so normal wie möglich wirken sollte, weder verrückt noch melodramatisch, eigentlich wie eine Gefühlsübertragung.

Die Geschichte von “Notorious” ist der alte Konflikt zwischen Liebe und Pflicht. Cary Grants Aufgabe ist es, Ingrid Bergman zu Claude Rains ins Bett zu treiben. Wirklich eine Situation voller Ironie, und Cary Grant ist dann auch die ganze Geschichte hindurch von Bitterkeit erfüllt. Claude Rains ist sympathisch, er ist ein Opfer seines Vertrauens geworden, und er liebt auch Ingrid Bergman, tiefer als Cary Grant es tut. Eine ganze Folge von Elementen psychologischer Dramatik, übertragen in eine Agentengeschichte.

Truffaut: Dazu kommt dann noch die wirklich schöne Fotografie von Ted Tetzlaff.

Hitchcock: Zu Beginn der Dreharbeiten drehten wir die Szene mit Ingrid Bergman und Cary Grant im Auto. Sie fährt zu schnell und ist etwas betrunken. Das wurde im Atelier vor einer Rückprojektion gedreht. Auf der Rückproleinwand sah man einen Polizisten auf dem Motorrad näherkommen. Wenn er nach rechts aus der Einstellung fährt, schneide ich im rechten Winkel, und die Szene geht jetzt mit dem Motorradfahrer im Atelier weiter, wie er auf die Höhe des Autos kommt und es anhält. Alles ist so weit und Ted Tetzlaff ruft: “Wir können.” Da sage ich: “Was hielten Sie davon, wenn wir auf der Seite ein kleines Licht hätten, das wir auf den Nacken der Schauspieler spielen ließen? Das würde dem Motorradscheinwerfer mehr Realität geben.” Er hatte das vorher nie gemacht, und weil es ihm nicht besonders paßte, daß ich mich einmischte, schaute er mich an und sagte: “Na, Papa, wir interessieren uns wohl für Technik?” [...]

Truffaut: [...] Ich wollte noch sagen, daß einer der Schlüssel zum Gelingen dieses Films wahrscheinlich die perfekte Besetzung war: Cary Grant, Ingrid Bergman, Claude Rains und Leopoldine Konstantin. Ich glaube, neben Robert Walker [“Der Fremde im Zug”] und Joseph Cotten [“Im Schatten des Zweifels”] war Claude Rains wahrscheinlich ihr bester Schurke, und er ist wirklich sehr menschlich. Ich finde, daß er kleiner war als Ingrid Bergmann, war auch ein Gefühlsfaktor: ein kleiner Mann, der sich in eine große Frau verliebt.

Hitchcock: Das war ein gutes Paar, aber in den Nahaufnahmen war der Größenunterschied so groß, daß wir, wenn wir sie beide in derselben Einstellung haben wollten, Claude Rains Klötze unterschieben mußten. Einmal sieht man die beiden von weitem herankommen und die Kamera schwenkt mit ihnen mit, da konnten wir Claude Rains nicht plötzlich auf Klötze stellen. Wir mußten also eine Art falschen Fußboden machen, der langsam anstieg. [...]

Quelle: “Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?” von Francois Truffaut

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