Truffaut: „The Man Who Knew Too Much“ [„Der Mann, der zuviel wußte“] war Ihr größter englischer Erfolg und war auch in Amerika sehr erfolgreich. Ein Paar, englische Touristen, machte mit seiner kleinen Tochter eine Reise in die Schweiz. Dort werden sie Zeugen eines Mordes an einem Franzosen, der ihnen, bevor er stirbt, noch eine Nachricht anvertraut. Es geht um den Plan, einen ausländischen Botschafter, der London einen Besuch abstattet, zu ermorden. Um das Paar zum Schweigen zu bringen, kidnappen die Agenten das Mädchen. Zurück in London, rettet die Mutter, die die Kidnapper verfolgt, dem Botschafter das Leben. In dem Augenblick, in dem ein Revolverschuß ihn während eines Konzerts in der Albert Hall treffen soll, schreit sie auf. Das Finale zeigt die Besetzung des Schlupfwinkels der Agenten durch die Polizei und die Rettung des kleinen Mädchens.
Ich habe irgendwo einmal gelesen, die Geschichte gehe zurück auf eine wahre Begebenheit, bei der Churchill eine Rolle gespielt haben soll, in seiner Zeit als Polizeichef.
Hitchcock: Das stimmt, aber nur der Schlußteil. Das passierte 1910. Der Vorfall ist bekannt geworden unter der Bezeichnung „Belagerung der Sidney Street“. Russische Anarchisten hatten sich in einem Haus verschanzt und schossen. Es war sehr schwierig, so daß man Militär rufen mußte. Churchill selbst hat die Operation geleitet. Ich hatte große Schwierigkeiten mit der Zensur, weil doch die englische Polizei nie bewaffnet ist. Damals hatte die Polizei es nicht geschafft, die Anarchisten herauszuholen. Deshalb hatte man die Armee holen müssen. Man wollte schon Artillerie einsetzen, als das Gebäude in Brand geriet. Als wir den Film drehten, bereitete uns dieser Vorfall großen Verdruß. Der Zensor machte uns Schwierigkeiten, weil diese Sache seiner Meinung nach in der Geschichte der englischen Polizei einen Makel darstellte. Er wollte nicht, daß man den Polizisten Waffen gäbe. Ich habe ihn gefragt: „Und wie sollen wir die Agenten herausholen?“ Er sagte: „Weshalb nehmen Sie keine Feuerwehrspritzen?“ Ich habe meine Notizen studiert und entdeckt, daß Churchill damals auch daran gedacht hatte. Schließlich erlaubte der Zensor doch, daß die Polizisten Waffen benutzten. Unter einer Bedingung: Es sollten alte Waffen sein, und sie sollten sie nicht selbst mitbringen, sondern aus einem Antiquitätenladen holen. Damit man sähe, daß die Polizei sonst keine Feuerwaffen verwendete. Ich fand das albern und habe mich schließlich dadurch aus der Affäre gezogen, daß ich kurz einen Lastwagen zeigte, von dem man die Gewehre an die Polizei verteilt.
Truffaut: In der amerikanischen Fassung von 1956 beginnt der Film in Marrakesch. Aber die erste begann in der Schweiz.
Hitchcock: Der Film beginnt im Schnee in Sankt Moritz, weil wir, meine Frau und ich, unsere Flitterwochen dort verbracht hatten. Vom Fenster unseres Zimmers aus schaute ich oft auf die Eisbahn, und dabei kam mir die Idee, einen Film damit zu beginnen, daß ein Schlittschuhläufer Zahlen auf das Eis schreibt - 8 - 6 - 0 - 2 -, und natürlich ist das irgendein Spionagecode. Aber auf die Idee habe ich dann verzichtet.
Truffaut: Weil es nicht zu filmen war oder weshalb?
Hitchcock: Es war in der Geschichte nicht unterzubringen. Aber so habe ich zum erstenmal an diesen Film gedacht. Ich habe vor mir die verschneiten Alpen gesehen, dann die verstopften Londoner Straßen, und dieser Kontrast war der Anstoß.
Truffaut: In der ersten Fassung haben Sie Pierre Fresnay auftreten lassen, und in dem Remake haben Sie für dieselbe Rolle wieder einen französischen Schauspieler genommen, Daniel Gélin. Warum?
Hitchcock: Ich glaube, das kam von der Produktion, ich wollte nicht unbedingt einen Franzosen. Der Schauspieler, den ich unbedingt haben wollte und den ich habe kommen lassen, war Peter Lorre. Es war seine erste englische Rolle. Er hatte gerade „M“ von Fritz Lang gemacht. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, und weil er einen auffälligen Überzieher trug, der ihm bis auf die Füße ging, nannten wir ihn „der wandelnde Überzieher“.
Truffaut: Hatten Sie „M“ gesehen?
Hitchcock: Ja, aber ich erinnere mich nicht genau. Gab es da nicht einen Mann, der pfiff?
Truffaut: Ja, das war Peter Lorre. Wahrscheinlich hatten Sie damals doch schon mehr von Fritz Lang gesehen, „Die Spione“, „Das Testament des Dr. Mabuse“.
Hitchcock: „Mabuse“, ja. Aber das ist lange her.
Erinnern Sie sich an die Szene beim Zahnarzt in „The Man Who Knew Too Much“? Erst sollte sie in einem Frisiersalon spielen, und die Männer sollten heiße Handtücher auf den Gesichtern haben, wie Masken. Kurz bevor ich anfing zu drehen, sah ich dann einen Film von Mervyn LéRoy, „I Am a Fugitive from a Chain Gang“, mit Paul Munt, und da gab es eine ähnliche Szene. Daraufhin habe ich dann alles in das Sprechzimmer eines Zahnarztes verlegt. Dann habe ich noch verschiedenes andere geändert, was mir nicht mehr gefiel. Zum Beispiel hatten wir zu Beginn des Films gezeigt, daß die Mutter des gekidnappten Kindes, die Heldin des Films, eine ausgezeichnete Karabinerschützin war. In der Szene in der Kapelle sollten die Schurken dann die Mutter hypnotisieren und sie, immer noch in Hypnose, in die Albert Hall bringen. Da sollte sie dann den Mord begehen, sie selbst sollte den Botschafter umbringen. Die Idee habe ich dann fallengelassen, weil ich mir gesagt habe, daß auch eine Meisterschützin in Hypnose vielleicht nicht genau zielen kann.
Truffaut: Interessant ist, daß Sie sich genau für die entgegengesetzte Idee entschieden haben. Die Frau tötet den Botschafter nicht nur nicht, sondern sie rettet ihm das Leben, indem sie im richtigen Augenblick den Schrei ausstößt, als sie während des Konzerts den Revolver des Mörders auf die Ehrenloge gerichtet sieht.
Aber erlauben Sie mir, die Handlung noch einmal zusammenzufassen, um unser Gedächtnis aufzufrischen. Die Agenten haben also beschlossen, den ausländischen Staatsmann während eines Konzerts in der Albert Hall zu töten. Und zwar soll der Killer genau in dem Augenblick abdrücken, in dem die Partitur der Kantate einen Beckenschlag vorschreibt, den einzigen. Sie haben das Attentat geübt und sich dabei die Kantate mehrmals auf einer Platte angehört. Das Konzert beginnt also, alle entscheidenden Personen sind versammelt, und wir warten mit steigender Angst auf den Augenblick, in dem der unbeweglich dasitzende Beckenschläger sein Instrument benutzen wird.
Hitchcock: Auf die Idee mit dem Beckenschlag hat mich eine Witzzeichnung gebracht, vielmehr ein Comic Strip in einer Zeitschrift von der Art des „Punch“. Er ging über vier ganze Seiten und zeigte einen Mann, der aufwacht. Er steht auf, geht ins Badezimmer, gurgelt, rasiert sich, duscht, zieht sich an, frühstückt. Alles das in getrennten kleinen Bildern. Dann nimmt er seinen Hut, seinen Mantel und ein kleines Etui aus Leder, geht hinaus auf die Straße, nimmt einen Bus, fährt in die Stadt und kommt zur Albert Hall. Er geht durch den Künstlereingang, legt Hut und Mantel ab, öffnet sein Etui und holt eine kleine Flöte heraus. Dann geht er zu den anderen Musikern, und sie betreten das Podium. Die Instrumente werden gestimmt, unser Mann setzt sich an seinen Platz, der Dirigent erscheint, gibt das Zeichen zum Einsatz, und die große Symphonie beginnt. Der kleine Mann sitzt da, er wartet und dreht die Seiten um. Schließlich richtet er sich auf, nimmt sein Instrument, führt es zum Mund, und bei einer bestimmten Geste des Dirigenten bläst er mit seiner Flöte eine Note. Bluup! Dann packt er sein Instrument wieder weg, verläßt leise das Orchester, nimmt Hut und Mantel, tritt auf die Straße. Es ist schon dunkel. Er steigt in den Autobus, kommt nachhause, ißt zu abend, geht in sein Schlafzimmer, dann ins Bad, gurgelt, zieht den Schlafanzug an, geht ins Bett und macht das Licht aus.
Truffaut: Das ist hübsch. Das ist eine Idee, die man in Zeichenfilmen ein paarmal verwendet hat, glaube ich, einmal mit einer Triangel.
Hitchcock: Wahrscheinlich. Sie hieß „The One-Note Man“, und die Geschichte dieses kleinen Mannes, der auf den Augenblick wartet, wo er eine einzige Note zu spielen hat, hat mich inspiriert zu dem Suspense mit dem Beckenschlag.
Truffaut: Ich erinnere mich leider nicht mehr sehr gut an die englische Fassung. Aber in Ihrem amerikanischen Remake haben Sie, was die Becken angeht, sehr große Rücksicht auf das Publikum genommen. Am Ende des Vorspanns zeigen Sie den Musiker, der die Becken schwingt, und darüber läuft ein Text, etwa des Inhalts: Ein einziger Beckenschlag kann das Leben einer amerikanischen Familie durcheinanderbringen. Später im Film hören sich dann die Agenten, ehe sie ins Konzert gehen, eine Aufnahme der Kantate an, und dabei kann man die Takte, die dem Beckenschlag voraufgehen, zweimal hören, ganz genau und sehr nachdrücklich.
Hitchcock: Das war nötig, damit das Publikum auch wirklich ganz bei der Sache war. Wahrscheinlich gibt es doch Zuschauer, die nicht wissen, was ein Becken ist, und denen mußte man unbedingt gleichzeitig das Instrument zeigen und dazu das Wort „Becken“ ausgeschrieben in Buchstaben. Weiter mußte das Publikum in der Lage sein, den Ton des Beckens nicht nur zu erkennen, sondern ihn sich vorher schon vorzustellen, ihn zu erwarten. Diese Konditionierung des Publikums ist die Voraussetzung für jeden Suspense. Ich habe die Takte der Kantate zweimal ablaufen lassen, um jedes Mißverständnis hinsichtlich der Dinge, die sich ereignen können, zu vermeiden. Ich habe oft bemerkt, daß bestimmte Suspense-Situationen dadurch infrage gestellt werden, daß das Publikum die Situation nicht ganz erfaßt. Zum Beispiel tragen zwei Schauspieler fast gleiche Anzüge, und schon unterscheidet sie das Publikum nicht mehr. Oder der Dekor ist unübersichtlich, und schon wissen die Leute nicht mehr richtig, wo sie sind. Und während der Zuschauer versucht, sich die Sache zurechtzulegen, läuft die Szene ab, und alle Emotion ist weg. Man muß ständig verdeutlichen. [...]
Bei „The Man Who Knew Too Much“ gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Fassungen. In der englischen bleibt der Ehemann in Haft, und die Heldin ist bis zum Ende des Films allein in der Albert Hall.
Truffaut: Das ist in der zweiten Fassung besser. James Stewarts Eintreffen mitten in der Aufführung der Kantate erlaubt es, den Suspense noch mehr in die Länge zu ziehen. Er findet Doris Day, sie verständigen sich durch Zeichen, sie macht ihm die Situation klar, zeigt ihm den Killer, dann den Botschafter, der in Gefahr schwebt. Stewart will etwas unternehmen. Er versucht, in die Loge des Botschafters zu kommen, aber dabei muß er erst mit ein paar Polizeibeamten diskutieren. Auch das wieder nur pantomimisch. Man versteht, daß er von den Polizisten immer an den nächsten, ranghöheren verwiesen wird, und diese ganze Pantomime erhöht den Suspense noch und macht gleichzeitig die Ironie der ganzen Szene aus. Der Humor ist sehr viel feiner als in dem englischen Film und meiner Meinung nach gelungener, weil er das Drama nicht unterbricht, sondern wirklich ein Teil davon ist.
Hitchcock: Das stimmt. Aber davon abgesehen ist, glaube ich, die Szene in der Albert Hall in den beiden Fassungen sehr ähnlich, finden Sie nicht? Es ist dieselbe Kantate.
Truffaut: Aber das zweitemal von Bernard Herrmann besser orchestriert. Ich habe den Eindruck, die Szene ist in der zweiten Fassung länger, aber jedenfalls ist es eine Rolle von dreihundert Metern nur mit Musik, ohne Dialog, fast ausschließlich aus starren Einstellungen. In der ersten Fassung waren die Einstellungen häufig bewegt, es gab mehrere Schwenks, zum Beispiel vom Kopf des Mörders zu dem der Frau, von dem der Frau zu dem des Botschafters. Das Remake ist rigoroser geschnitten.
Hitchcock: Sagen wir, die erste Fassung hat ein talentierter Dilettant gemacht und die zweite ein Professioneller.
Quelle: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ von Francois Truffaut