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Traum und Wirklichkeit - zwei Medien, die miteinander verschmolzen sind und zwischen denen das menschliche Gehirn nach Belieben wandeln kann? Vielleicht ist es der größte Trugschluss des technologischen Zeitalters, den Traum der Wirklichkeit gleichzusetzen und ihm in dieser Wirklichkeit ein Ebenbild aus Technik zu erschaffen. Als wolle man seine Flüchtigkeit, die ja in seinem Wesen verankert ist, in den festen drei Dimensionen der Realität einsperren. Ihn festnageln, untersuchen, studieren wie einen Schmetterling mit seinen leuchtenden Farben am Pinnbrett - und ihm damit sein Wesen nehmen. Das darin liegt, sich frei in der Luft zu bewegen - und jener Luft als mediales Lebenselement doch ausgeliefert zu sein, so wie die Inhalte des Traumes immer von der Non-Traum-Dimension des tatsächlich Erlebten bestimmt werden.

Nicht umsonst fällt in Satoshi Kons “Paprika” der Schlüsselsatz, dass es im Traum keine Grenzen gebe. Die meisterhafte Welt des Surrealen, die in nur 90 Minuten eindrucksvoll aufgebaut wird, ähnelt einem Hasch-Mich-Spiel. Der Mensch, wie er vergebens seiner eigenen Phantasie hinterherjagt, sie um Haaresbreite zu packen kriegt und am Ende doch stets verfehlt. Engpässe, Grenzen, Sackgassen bauen sich in dieser Welt aus Heiterkeit, Düsternis, Überlebensgröße und gigantomanischem Wahnsinn auf, nur um unerwartet im Strudel eines schwarzen Loches aufzubrechen und den Blick freizulegen auf eine neue Situation. Befreiend. Paprika, das rothaarige Traum-Avatar einer dunkelhaarigen Therapeutin, eilt wie eine dynamische Superheldin durch die sich stets verändernde Welt und ist dabei Jägerin und Gejagte zugleich. Sie springt über die Absperrung auf einem Jahrmarkt und droht eine Sekunde später nicht etwa auf dem Asphalt der gegenüberliegenden Seite zu landen, sondern einen Wolkenkratzer hinabzuspringen. Dazu als wiederkehrendes Motiv eine riesige Parade, untermalt mit einem kongenialen Thema, das immer lauter wird. Sich wechselnde Atmosphären, Anime-unüblich sich auch mal in echtem Horror verlierend.

Hektik ist es, die das sich primär über Symbolik erzählende und erklärende Werk regiert und es letztlich zu einer Dystopie macht. Die Traummaschine “DC-Mini” steht stellvertretend für die zunehmende Überschreitung von medialen Dimensionen, die der modernen Technik immer weiter anheim fallen, ohne die Konsequenzen der menschlichen Wahrnehmung dabei in Betracht zu ziehen. In rasend schneller Wechselwirkung bebildert Kon den gegenseitigen Einfluss von Traum und Realität aufeinander, die sich gegenseitig so weit aufwiegeln, dass die Welt im Chaos zu versinken droht. Die Gefahr wirkt mitunter virtuell, so schwer greifbar, was sie nur noch tückischer macht. Man glaubt manchmal, einer leichten Komödie zuzuschauen, bis sich die Beleuchtung vollkommen ins Gegenteil umkehrt. Ständig laufen die Figuren unter Gittern oder sonstigen Hindernissen hindurch, die abwechselnd Licht oder Schatten werfen. Die Welt flackert und droht zu kollabieren. Plötzlich ist alles dunkel wie im Film Noir, die Szenen im Zirkus erinnern trotz des gefüllten Saals sogar mitunter an die Theaterszene aus David Lynchs “Mulholland Drive”, mehr noch der leere Kinosaal mit den roten Sesseln, der durch eine Kamerarückfahrt von der Leinwand (die noch den kompletten Bildschirm ausfüllt) in den Saal hinein sich als mise-en-scène entpuppt. Kein Zufall ist es auch, dass prompt in diesem Saal Einblicke in die Kameratechnik eines Spielfilms geboten werden, als Strichpunkte die Blickkontaktlinie zwischen den beiden Antagonisten kennzeichnen.

Auch in Sachen Symbolik dominiert die Medientechnik. Wenn Paprika und ihre Mitstreiter durch einen Flachbildfernseher in eine andere Dimension springen, quetschen sie sich auf der anderen Seite durch die Linse einer Kamera auf die Straße. In der Parade laufen “unschuldige” Handyfrauen herum, die ihre Röckchen heben, um den Jungs mit Kameraköpfen einen Schnappschuss zu gewähren. Eine gigantische Puppe ist Sinnbild des Bösen in der Traumwelt, ihre Leblosigkeit verläuft synchron mit der Technizität ihrer Umgebung. Ein dicker Helfer, der sich in der wirklichen Welt hinter seinem Körperfett versteckt, wird in der Traumwelt als Roboter wiedergeboren - Kon nimmt hier Bezug auf den Mediendiskurs der “postsymbolic communication”, der darauf angelegt ist, zu spekulieren, was wäre, wenn man seine fleischliche Hülle nach und nach durch Biomechanik ersetzen würde, bis vom ursprünglichen Körper nichts mehr vorhanden wäre und das Bewusstsein auf Basis von Technologie ewig weiterleben könnte.

In seinem schier endlosen Einfallsreichtum und der ständigen Entstehung neuer Situationen wandelt der Film auf dem schmalen Grat, kaum auf einen erzählerischen Faden zurückgreifen zu können. Surreal erzählte Filme sind nicht selten anfällig dafür, nach einer halben Stunde der Faszination zu langweilen, weil man das Gefühl hat, ständig in Bewegung zu sein, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen. Nicht so hier. Das mag an der atemberaubenden Verquickung von Handanimation und Digitalem liegen, die sich vor “Chihiros Reise ins Zauberland” nicht verstecken muss und ein visuelles Erlebnis der Extraklasse zur Folge hat, an der endlosen Anhäufung von Ideen, die sich in jedem einzelnen Standbild verbergen; aber nicht zuletzt daran, dass ein anderer Weg gefunden wird, eine Geschichte zu erzählen; derjenige über die Bildsprache, und die könnte faszinierender nicht sein.

Mit “Paprika” schickt Satoshi Kon sein Publikum in ein emotionales Wechselbad von gewaltiger Intensität, das starken Event-Charakter besitzt, ohne jedoch dabei in Stagnation zu zerlaufen. Seine Medienkritik zeugt von Reife und einem reflektierten Umgang mit der Thematik sowie viel Erfahrung, die man in seinem Backkatalog ja auch nachschauen kann (wer genau hinschaut, erkennt übrigens in einer Szene vor dem Kino ein Plakat zu seinem allerdings wesentlich geerdeteren “Tokyo Godfathers”). Nicht nur handwerklich ein Gaumenschmaus, auch inhaltlich dank der ausgereiften Symbolik ein Fremderlebnis nahe an der sprichwörtlichen Perfektion, dem auf den Grund zu gehen ein wahrhaftiges Abenteuer ist.

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