Palmer: Hallo, Chili.
Chili: Mr. Palmer.
Palmer: Scheint funktioniert zu haben. 173 Minuten die volle Dosis Lynch, und ich habe meine/unsere Persönlichkeitsspaltung hinbekommen.
Chili: Na ja, das liest sich jetzt toll, ist aber nun wahrlich kein Akt. Im Grunde sind wir eh nur eine Kunstfigur, die sich ein amerikanischer Kriminalautor auf Basis eines echten Menschen ausgedacht hat, die dann in Filmen von einem Schauspieler verkörpert wurde, dann als Nickname eines Filmfans für eine Website benutzt und nun von ihm für diese Aufspaltungsspielerei hier missbraucht wird.
Palmer: Ah, verstehe, du willst den rationalen Part übernehmen. Wenn es den überhaupt geben kann. Denn du hast es doch schon ganz nett umrissen: Wo ziehen wir denn bei unserem Charakter die Grenze, wie werden Charaktere in den unterschiedlichsten erzählerischen Medien eingesetzt, in welcher Weise beeinflussen diese Medien einander und unser Verhältnis zur Realität, und wie greift Lynch mit INLAND EMPIRE diese Themenkomplexe auf?
Chili: Da sind wir schon viel zu weit, in Bereichen, die ich heute nicht mit der Kneifzange anfassen werde. Verbleiben wir doch mal lieber am Objekt selbst. Wer diesen Film gesehen hat, muss erstmal seine Gedanken ordnen. Polnische Sitcom-Hasen, klaustrophobische Sets, Zeitsprünge, Geistesebenen, alles umschmiegt von einem konventionellen „etwas-Schlimmes-ist-geschehen-und-nun-werden-Leute-verhört“-Schema. Lynch, wie wir ihn kennen, aber eben noch eine Spur breiter, opulenter, vehementer.
Palmer: Ich bin nicht sicher, ob man sich mit dem Festhalten am Vordergründigen, mit „Gedanken-Ordnen“ einen Gefallen tut. Das hier ist ein filmischer Alptraum, der muss dich doch schreiend aus dem seligen Kinostandardschlummerschlaf reißen, ins Schwadronieren bringen, oder?
Chili: Tut er das? Du bist Ich, sag du’s mir doch.
Palmer: Verdammt, das tut er selbstverständlich nicht. Und so sehr ich mich einfach nur mitreißen lassen möchte, kann ich mich doch nicht vor den Mechanismen Lynchs versperren.
Chili: Die da wären?
Palmer: Er meinte einmal, dass es beunruhigend wäre, Zeuge von ungewöhnlichem Benehmen anderer Leute zu werden, sie seltsame Dinge sagen zu hören.
Stell’ dir nur einmal vor, du bist auf einer Party, stehst in der Küche, dort, wo sich alle ihr Bier holen, und neben dir steht noch jemand. Plötzlich kommt eine dritte Person herein, nimmt sich, wie du siehst, das letzte Bier. Die Person neben dir sagt: „Das Bier ist alle“. Eure Wahrnehmung scheint deckungsgleich. Was aber, wenn die Person sagt: „Das Bier war alle“. Ein Wort abgeändert, drei Buchstaben nur, und schon eine völlig andere Situation. Plötzlich spricht da einer rückblickend aus der Zukunft, verwirrenderweise in der Gegenwart neben dir stehend. Was für ein Psycho, hm? Aber so springt Lynch eben auch, baut seine Filme mit simplen Tricks um das Vermeiden des Offensichtlichen herum auf. Im Kern verändert er nichts, auch in seinen Filmen ist „das Bier alle“, ganz egal, wie seine Figuren dazu stehen mögen und es uns mitteilen.
So schaue ich nun auf INLAND EMPIRE:
Seinen narrativen Amoklauf, technische Sperenzchen und forciert improvisierten Darstellerleistungen mal beiseite geräumt, was bleibt denn da übrig? Eine Geschichte über Eifersucht, Leidenschaft und Mord. Der älteste Kram überhaupt. Überhaupt nichts Innovatives, lediglich so verschachtelt verpackt, dass man lange benötigt, um es zu sehen. Und ist das nicht schön? Wie es Lynch gelingt, das filmisch Alltägliche, schon tausendmal Erzählte außergewöhnlich und traumartig erscheinen zu lassen, das ist doch reinstes Kino. Und sei es nur, dass man für drei Stunden das Gefühl vermittelt bekommt, dass da mehr ist. Mehr hinter den Dingen, den Bildern. Mehr zu sehen, zu erleben, zu fühlen. Das verleiht dem Film doch geradezu eine optimistische Prägung, auch wenn er nicht danach aussieht.
Chili: Ist ja widerlich, wie du dem Kerl auf den Leim gehst. Der improvisiert sich da in Polen mit Digitalkameras einen Ast, und du nennst das „reinstes Kino“. Legst da viel mehr hinein, als überhaupt drinsteckt, nur weil der Typ zu bequem ist, seinem Werk eine Aussage oder eine Haltung zu verschaffen.
Palmer: Das diskutieren wir demnächst mal weiter, wenn du wieder irgendeine Comicverfilmung über Gebühr in den Himmel lobst. Mehr hineinlegen als drinsteckt, dass ich nicht lache. Wir, ICH tue doch die ganze Zeit nichts anderes. Interpretiere in Filme sonst was hinein, die nicht einmal darum gebeten haben, und wenn sich nun Lynchs Werk offen für jeden Zuschauer ausbreitet und freie Assoziationen erfleht, ist es des Guten zuviel, ja? Hast du mal gelesen, was andere so zu diesem Film schreiben? Da drehst du ab. INLAND EMPIRE ist ein Mindfuck-Bordell.
Chili: Und du demnach vollständig glücklich mit dem Film?
Palmer: Och, nö, nein. Er stellt mit seiner Ballung bekannter Lynch-Manierismen ein Greatest-Hits-Album dar, das naturgemäß stutzig macht, da man ja nie weiß, ob damit nun der kreative Betrieb eingestellt ist und nur noch Tantiemen verwaltet werden. Insofern ist das nächste Projekt des Künstlers David Lynch sein bislang Spannendstes.
Chili: Das klingt jetzt aber nicht mehr so enthusiastisch.
Palmer: Versteh’ mich nicht falsch. Greatest-Hits-Alben sind für sich betrachtet wunderbar. Eine Ansammlung makelloser Stücke. Aber als Fan hört man sich die doch nicht wirklich gerne an, man kennt den Kram ja. Naja, zwei neue Stücke sind mit drauf und die alten Songs wirken schon durch ihre Isolierung von ihren jeweiligen Ursprungswerken plötzlich anders, aber sich deswegen über die volle Laufzeit quälen? Was natürlich nichts an der grundlegenden Qualität der Zuammenstellung ändert.
Chili: Konkret, mein Alter: Wer einen Künstler nicht kennt, aber mal in sein Werk hineinschnuppern möchte, greift ja nun mal bekanntlich zu den „Greatest Hits“. Würdest du demzufolge Lynch-Unkundigen INLAND EMPIRE empfehlen?
Palmer: Auf jeden Fall. Wer den mit Gewinn durchsteht, wird seine vorangegangenen Filme lieben.
Chili: Wenn das mal kein schönes Fazit ist. Hey!
Palmer: Was?
Chili: Das Review war zu Ende.
Palmer: Spinner.