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Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« …

Ich sehe etwas, du siehst etwas, er sieht etwas, aber wir sehen nicht etwas. Das würde bedeuten, wir sähen das gleiche Etwas. Das jedoch ist nicht möglich in David Lynchs „Inland Empire“.

Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: Gehe hinüber, so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge…

David Lynch drehte einen Film, in dem ein Film gedreht wird, der schon einmal gedreht werden sollte. Klar und deutlich - aber was ist im Lynch-Kosmos schon klar und deutlich?: In „Inland Empire“ entsteht das Remake eines begonnenen, aber nicht fertig gestellten, polnischen Werkes, dessen Vollendung der mysteriöse Tod seiner beiden Hauptdarsteller im Wege stand. Im Film-Film lassen sich die Protagonisten zu einer Affäre hinreißen und auch im Film wird ein Seitensprung zum Ereignis. Lynch visualisiert allerdings in mehreren Schichten das sich Wiederholende, gleichermaßen das Remaken des Filmes wie auch das Remaken der Ereignisse und Umstände, verbunden mit einem Realitätsverlust der Schauspielern Nikki Grace (Laura Dern), die mit ihrer Filmfigur Sue Blue verschmilzt. Vielmehr lässt sich mit Gewissheit schon nicht mehr sagen.

„Inland Empire“ definiert damit den Begriff der Verzweigtheit neu. Wie eine Kamera, die einen Fernseher filmt, der die Aufnahmen der Kamera zeigt und sich das Bild im Bild unendlich reproduziert, vervielfältigt sich unbestimmt vielfach zunächst auch dieser Film. Er vervielfältigt seine Bilder, seine Geräusche, seine Handlung, seine Darsteller. Als wäre dies allerdings nicht schon genug. Er belässt es nicht bei der Vervielfältigung; der Umstand, sich nicht auf einer Film-im-Film-Ebene, stattdessen auf einer Film-im-Film-im-Film-im-Film-etc-pp-Ebene zu bewegen, genügt David Lynch nicht - er variiert die vervielfältigten Kopien zudem. Das ist nicht neu, neu aber ist ein Problem: Bereits die einfachen Dopplungen sind kaum mehr sichtbar, da im Unterschied zu „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“ nun die Persönlichkeiten wechseln, ohne den Körper zu wechseln, ohne die Haare zu färben. Laura Dern bleibt äußerlich Laura Dern, abgesehen von einem zermarterten Gesicht in einer Prostituiertenrolle. Die verschiedenen Charaktere, bei denen letztlich nicht ganz klar wird, wer oder besser was sie sind - Kopfgeburten, Inkarnationen, Filmfiguren? -, nuanciert Laura Dern mit Sprache, Gestiken und Verhalten.

Da Lynch ein Patent auf kryptische Brüche inne zu haben scheint, ist auf die verwirrenden Einschnitte gerade hier wieder Verlass. Aber deren Grenzen sind aufgrund der Ähnlichkeiten der Duplikate verschwommener denn je. Und mehr noch: Nicht nur dass „Inland Empire“ eindeutige Trennlinien zwischen Realität und Nicht-Realität nicht benennt, er verweigert sich auch, die Nichtrealitäten überhaupt zu definieren. Sind es Träume, sind es Visionen, sind es nach außen gekehrte Abstiege in das Innere des Kopfes? Ist es nur der Film im Film? Es ist wohl von allem etwas. Dass nur wenig sich mit Sicherheit sagen und feststellen lässt, das nennen die einen dann Frustration und die anderen Faszination. Nach beinahe dreistündigem Irren in diesem bisweilen zähen, das Zeitgefühl des Zuschauers nicht immer aufzulösen vermögenden, manchmal aber auch ganz unentkrampft dahinfließenden Mammutlabyrinth stellt sich irgendwann unweigerlich die Frage nach dessen Essenz, die jedoch ein jeder Zuschauer laut Lynch selbst entwickeln und in Erfahrung bringen müsse. Nur soviel und so wenig: „Inland Empire“ sei ein Blick durch „verschwommene Scheiben des menschlichen Ichs auf dunkle Abgründe.“ Aha.

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. « - »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.

(Franz Kafka, „Kleine Fabel“)


Es lässt sich sagen, „Inland Empire“ ist ein Transmitterstoff zur transzendentalen Meditation, wie Lynch sie schon Jahrzehnte betreibt. Wenn auch ein verstörender. Er ist trotzdem eine Art Pforte in das von einer unbegreiflichen Hyperesoterik durchtränkte Reich des David Lynch, ein Schlüssel für höhere mentale Ausdrucksebenen, die eidliche Eintrittskarte in einen zeitlosen Raum, in der keine Körper, sondern nur noch Geisteszustände existieren beziehungsweise zusammen mit Maharishi Mahesh Yogi munter vor sich herschweben. Nach diesem Trip glaubt man, nicht den Film, wohl aber das Lynch’sche Kinoverständnis begriffen zu haben und kann sich der Vorstellung nicht erwehren, vor dem geistigen Auge ein metaphysisches Großhirn aus einer Kreuzung aus Salvador Dalí, Einstein und Norman Bates oszillieren zu sehen. Till Eulenspiegel oder ein anderer Bold des Witzes fehlt, denn „Inland Empire“ nimmt sich so ernst, wie man sich nur ernst nehmen kann.

Das war in „Mulholland Drive“ noch anders; etwa in einer tarantinoesk anmutenden Episode eines verunglückten Mordes. Wenn Laura Dern aber lacht oder verstört blickt, liebreizt oder ganz tough fuckige Wörter flucht, plötzlich gehext oder zu „Locomotion“ getanzt wird, dann ist das in mancherlei Hinsicht vielleicht noch unfreiwillig komisch, doch bleibt es auch bei dieser Unfreiwilligkeit. Frei von Ironie ist der Hollywood-Kommentar, der sich äußert im Sturz und ergreifenden Blutspucken auf das saubere Pflaster des Walk of Fames. Nicht anders die humanoide Hasenfamilie, deren Szenen von eingespielten Sitcom-Lachern begleitet werden. Der satirische Ansatz wird hier von der bedrohlich-bizarren Atmosphäre völlig überschattet. Die Monotonie (apathisches Bügeln und Fernsehen), die Kälte, das Kommunikationsvakuum in ihr, die Falschheit der Szenerie, all das deutet eher auf das unausgefüllte, kahle Eheleben der Schauspielerin Nikki Grace und ihres polnischen Mannes hin als auf eine „Cosby Show“-Persiflage.

Neben permanenter Angst als ungriffiges Leitmotiv ist dies das Hauptthema, das Laura Dern zu Boden strecken, das sich jedoch auch irgendwie selbst therapieren wird. Auf den Ehebruch wird schon früh hingewiesen in Form einer neuen, allwissend scheinenden und einer Hexe gleichkommenden Nachbarin (Lynch hatte schon immer ein Faible für Hexen) sowie einer Talk Show, die uns Nikkis Filmpartner Devon Berk (Justin Theroux) als Womanizer bekannt macht. Mit Beginn der Affäre tritt bald eine Clique aus attraktiven Prostituierten in Erscheinung, ein Sinnbild für Devons Trophäensammlung und - natürlich - den Ehebruch. Die Hure, eine der vielen Nikki-Grace-Persönlichkeiten, als Symbol des anrüchigen Betruges. Devons beziehungsweise Billys (das ist nicht recht klar) Ehefrau scheint dahinter zu kommen. Recht früh kommt die erste ihrer zwei Szenen, deren Sinn sich zu diesem Zeitpunkt unmöglich erschließen lässt, in der sie augenscheinlich auf einer Polizeistation einem Beamten schildert, so etwas wie hypnotisiert worden zu sein und dass sie bald jemanden mit einem Schraubenzieher töten werde.

…Darauf sagte einer: Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei.

Ein anderer sagte: Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist.

Der erste sagte: Du hast gewonnen.

Der zweite sagte: Aber leider nur im Gleichnis.

Der erste sagte: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.

(Franz Kafka, „Von den Gleichnissen“)


In der unabhängigsten Unabhängigkeit gedreht, schwingt sich Lynch also wie ein Einsiedlerkrebs in Sphären des filmischen Meditierens und versucht, das Medium zu erweitern, experimentiert, nicht nur im Ganzen, gleichfalls mit Verfremdungsmitteln innerhalb seines neuen Lieblingsformates, dem Digital Video, das grobkörnig aussieht, semidokumentarisch-lose sich Gesichtsporen nähert. Die typischen Lynchismen vermischen sich so mit frischeren Errungenschaften zu einer Legierung aus subkutaner, basslastiger Tonspur, geblurten Gesichtern, Fratzencollagen und Stroboskopflackern unter anderem. Indem David Lynch das Medium auf seine Weise formt, ausformt, umformt, verformt, deformiert, transzendiert er es, dies freilich. Nur scheint er sich irgendwie ausschließlich in diesem diffusen Prozess weiterzuentwickeln. Trotz einiger Neuerungen kann man sich nicht des Eindruckes erwehren, Lynch wiederhole sich nur noch, wenngleich die Größendimension dabei gigantomanisch ist.

So gigantomanisch und ungreifbar und unkonkret, dass der Film, so sehr man auch den einen oder anderen Dämon entschlüsselt zu haben glaubt, ein riesiger Dämon bleibt, ein nicht dechiffrierbarer Komplex. Wer ihn begreift, zerstört den Mythos und um der Unlösbarkeit Willen scheint das Werk zu einem gewissen Teil auch geschaffen worden zu sein. „Inland Empire“ ist wie ein Insiderwitz mit nur einem Eingeweihten, folglich dem Witzerzähler - Lynch. Es darf daher diesmal umso eindringlicher die Frage gestellt werden: Warum sich dieser Ohnmacht ausliefern? Wer sich dieses Halluzinogen einwirft, darf nicht mit weniger als dem längsten Alptraum seines Lebens rechnen.

…Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich. « »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

(Franz Kafka, Türhüterparabel aus „Der Prozess“).

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