All diejenigen die schon in „Mulholland Drive“- meines Erachtens einer der wenigen großen Filme die uns das neue Jahrtausend bislang beschert hat- nicht mehr als abstrusen Unsinn, eine willkürliche Collage seltsamer Szenen sahen, sollten einen großen Bogen um David Lynchs neuen Film „Inland Empire“ machen, an dem der amerikanische Künstler zwei Jahre intensiv arbeitete. „Inland Empire“ ist ein Film wie man ihn nur lieben oder hassen kann. Kino in seiner ursprünglichsten, reinsten und unverfälschtesten Form oder prätentiöse Erzählspielerei? Wer bereits „Mulholland Drive“ oder Lynchs brillanten Erstling „Eraserhead“ genießen durfte kann sich diese Frage schon im Vorfeld beantworten, auch wenn die Differenz zwischen diesen drei Filmen trotz ähnlicher Stilmittel gewaltig ist.
Wie Lynch selbst in einem Interview äußerte wolle er dass jeder Zuschauer mit „Inland Empire“ einen völlig anderen Film sehe, sein Werk quasi im Kopf eines jeden einzelnen wachsen müsse. Da seine undefinierbare Schöpfung uns unter diesem Gesichtspunkt soweit wie nur möglich entgegenkommt werde ich mich also hüten, eine seitenlange Analyse in die Welt zu setzen- letztlich ist „Inland Empire“ nämlich auch nicht das, was er vielen Kritikern zu sein scheint: Eine radikale Abkehr vom narrativen Kino. „Inland Empire“ erzählt sehr wohl eine Geschichte, eine die sich nicht anhand der Normen des klassischen Erzählkinos wiedergeben lässt, sich aber dennoch vor ihm verbeugt und ihm nicht grundsätzlich widerspricht. Denn der Titel, der oberflächlich auf eine zwischen Los Angeles und San Diego gelegene Gegend anspielt, ist auch aus anderer Sicht vollkommen programmatisch: Die Entwicklung einer Persönlichkeit, die in einer Identitätskrise steckt- aus unterschiedlichsten Gründen- und ihre schlussendliche Neuerfindung und Befreiung von „altem Ballast“, das ist der ganze Inhalt von „Inland Empire“.
Dass Lynch für eine angemessene Aufarbeitung dieser komplexen Thematik ganze (dennoch kurzweilige) drei Stunden verwendet hat sei ihm verziehen. Wie sonst sollte es auch möglich sein, in einem Film die Seelen- und Gedankenlandschaft eines Menschen aus seinem Unterbewusstsein auf seine Umwelt zu übertragen, bzw. seine Umwelt an das Innenleben des Menschen anzupassen, nach ihm zu formen und zum Sprachrohr, zum Instrument zu machen? Sehr oft wirken die Gesprächspartner von Nikki (Laura Dern) nicht wie eigenständige Personen sondern eher wie abstrahierte Spiegelbilder, schizophrene Kopfgeburten, die Nikki mit ihren Zukunftsängsten, Träumen und Traumata, sexuellen Fantasien und ihrem Hass konfrontieren da sie selbst offenbar nicht in der Lage ist, sich durch Selbstreflexion auf die Schliche zu kommen.
Das man diese Prämisse auch in zehn Filmen von je drei Stunden Laufzeit aufarbeiten könnte, ist klar. So gesehen beschränkt sich Lynch also auf wesentliche Zustände die Nikki durchleben muss- und vor allem diejenigen, die sich zu ihm und seinem filmischen Blick kongenial verhalten. Und so wird „Inland Empire“ zumindest eine der vielen Hoffnungen, die man in ihn als Kenner des Lynchschen Oeuvres setzt erfüllen, sollte man dem Rest eher abgeneigt sein: Auch „Inland Empire“ ist ein Traum, ein Alptraum. Wo der ästhetisch glanzvolle „Mulholland Drive“ noch die äußere Schönheit der Menschen und ihrer Umwelt (und damit wiederum auch ihres Kerns) in den Dreck zerrte, schreiten das Schöne und Abstoßende hier in gleicher Uniform nebeneinander her, eingehüllt in eine äußerst gewöhnungsbedürftige Optik: Lynch tat es Kollegen wie Peter Greenaway gleich und wagte den gefürchteten Schritt zum Digitalvideo. Statt scharfer, in Licht und Farbgebung ausbalancierter 35mm-Bilder wabert „Inland Empire“ in oft schmutzigen, unscharfen und verrauschten DV-Bildern und bewusst extrem überhöhten Kontrasten auf der Leinwand vor sich hin, projeziert von einer Filmkopie die aus jenem Material gefertigt ist, auf das normalerweise auch belichtet wird- der Kampf des analogen mit dem niedrig auflösenden digitalen Material tut sein übriges um „Inland Empire“ trotz seiner surrealistischen Wucht das Aussehen eines bizarren, unwirklichen Homevideos zu verleihen. Was aber kein Grund zur Besorgnis ist, denn Lynch hat die ästhetischen Möglichkeiten des digitalen Films fantastisch ausgelotet und bringt seine oft unterschätzten Stärken beeindruckend zur Geltung- vielleicht wird sein Film sogar dazu beitragen, das DV in Zukunft als ernstzunehmende Alternative zu analogem Film und HDV mehr Anerkennung erntet.
Doch das technische und formale Experiment wäre nicht geglückt, hätte Lynch nicht eine großartige, verlässliche Besetzung zusammengeführt, dominiert von seiner mutmaßlichen (weil hier innerhalb von 20 Jahren zum dritten Mal eingesetzten) Lieblingsdarstellerin Laura Dern, die mit der Nikki Grace vermutlich die so genannte Rolle ihres Lebens gefunden hat. Wie sich die Dern anhand der schemenhaften Treatments- ein Drehbuch im eigentlichen Sinne scheint es nicht gegeben zu haben- von Persönlichkeit zu Persönlichkeit hangelt und dabei doch immer einen roten Faden aufrecht erhält verdient größte Bewunderung und Ehrfurcht. Auch ihre Co-Darsteller Justin Theroux, Jeremy Irons präsentieren sich in bester Spiellaune was glücklicherweise auch in der sehr gelungenen deutschen Synchronfassung keinen Schaden nimmt. Und wer kritisiert das „Inland Empire“ ein größtenteils frei improvisierter, „planloser“ Film sei, hat die Filme des David Lynch ohnehin nicht wirklich verstanden. Wie die anderen großen Surrealisten- Jodorowsky, Arrabal oder Bunuel- verweigert sich auch Lynch dem streng durchgeplanten Filmemachen das dem bizarren, suggestiven Kino und dem Experiment meist eher im Weg steht. Der Eindruck dass ihm dabei einige Male die Kontrolle über das Chaos entgleitet ist sicherlich nicht unberechtigt, gibt dem Film aber auch einen erfrischend spontanen Eindruck zumal der Lynchsche Wahnsinn trotz alledem natürlich- wie bereits angedeutet- ein klar umrissenes System hat.
Dadurch dass „Inland Empire“ durch einen thematischen Oberpunkt zusammengehalten wird, sind alle Deutungsversuche der verschiedenen Abschnitte, die oftmals aufeinander zurückgreifen, sich aber im gleichen Atemzug widersprechen aber nie vollständig voneinander isoliert scheinen, zweitrangig, auch wenn die extrem stilisierten Mono- und Dialoge regelrecht zur ausgiebigen Interpretation einladen. Die brennenden Augen des Zuschauers werden nach drei Stunden mit einer Art Happy End besänftigt- angesichts des nachtschwarzen und beklemmenden Vorfilms eine beinahe komische Überraschung, die allerdings durch bereits zuvor sparsam eingestreute Ironie und schwarzen Humor unmerklich vorbereitet wurde.
„Inland Empire“ ist ein überwältigendes, in gewisser Hinsicht monumentales Werk das allen Bedenken, David Lynch könnte möglicherweise vom Hollywood-Außenseiter zum anschmiegsamen Arthouse-Meister für das bequeme Mainstream-Publikum mutiert sein (der sich dank seinen oft scharfen Angriffen auf die „Stadt der Engel“ aber nicht sofort als solcher zu erkennen gibt) zum Trotz die gebündelte Energie improvisierten Filmtheaters und erstaunlicherweise auch junger Experimentalfilme entgegensetzt. Hochgradig unkommerziell, radikal alle Sehgewohnheiten des von Hollywood verhätschelten Publikums attackierend und dramaturgisch nahezu unentwirrbar grenzt es schon beinahe an ein kleines Wunder, das dieser schwierige Film den Sprung in unsere Kinos geschafft hat- ohne das Etikett „Lynch“ wäre eine rentable Auswertung des ebenso unbequemen wie in seiner Schön- und Vollkommenheit atemberaubenden dreistündigen Films wohl undenkbar. Wer sich primär dem Mainstream-Kino und seinen ungeschriebenen Gesetzen verbunden fühlt sollte Abstand von „Inland Empire“ halten- wer aber meint, den beständigen Drang, einen Film dramaturgisch zu rationalisieren für drei Stunden unterdrücken zu können und experimentellem Kunstkino nicht grundsätzlich abgeneigt ist sollte unbedingt die bizarre, mystische und suggestive Reise durch das „Inland Empire“ antreten.