Ich bin von Kindheitsbeinen an ein großer Fußball-Fan, habe jahrelang selbst aktiv im Tor gestanden und sauge als glühender Anhänger von Borussia Mönchengladbach wöchentlich die Bundesliga nebst den wichtigen internationalen Ligen in mich auf. Das Engagement und der Fanatismus mag mit dem Älterwerden inzwischen etwas nachgelassen haben, aber mein Herz schlägt trotzdem noch für das runde Leder. Diese Weltmeisterschaft in Deutschland war für mich deshalb etwas ganz Besonderes, sicherlich eines der größten Ereignisse in meinem Leben, und ich habe mir damals schon gewünscht, es würde ewig so weitergehen. Diese elektrisierende Stimmung in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt unglaublich und das Wiederentdecken des Nationalstolzes, das Feiern des eigenen Landes, ein heutzutage geradezu unbekanntes Gefühl für uns.
Wehe, hier versucht mich jetzt jemand absichtlich falsch zu verstehen, aber die WM hat über mehrere Wochen etwas geschafft, was ich persönlich in unserem Land aufgrund des dunklen Kapitels der deutschen Geschichte für undenkbar hielt: Spontaner Patriotismus, gepaart mit einer Welle der Euphorie, auf die fast jeder Deutsche fahnenschwingend mitschwimmen wollte. Diesen Ausnahmezustand und gewiss eine Fußball-WM im eigenen Lande werden die meisten von uns vermutlich nicht mehr oder höchstens im hohen Alter noch einmal erleben und gerade deshalb sind jene Zeitdokumente so wichtig.
Speziell Jürgen Klinsmann, sein Team und seine Truppe hungriger Fußballer trugen einen Löwenanteil dazu bei, dass ganz Deutschland im Freudentaumel versank, alle Sorgen einmal fallen ließ und den Slogan „Zu Gast bei Freunden“ in die Tat umsetzte. Ich persönlich war u.a. anderen in Hannover zugegen als Tausende von Mexikanern die Landeshauptstadt bevölkerten: Die Stimmung war unvergesslich, die Mexikaner ein sehr höfliches und ausgelassenes Volk und kein Zwischenfall trübte diesen tollen Abend. Trotz einiger Knallchargen (u.a. in Dortmund) konnte Deutschland weltweit sein Image aufpolieren, mit den Fanmeilen, die alle Erwartungen übertrafen, einen neuen Trend schaffen und nebenher noch klammheimlich lästige Gesetze verabschieden, auf die kaum jemand achtete. Ein negativer Nebeneffekt, denn unsere Politiker eben geschickt zu nutzen wussten, aber hier nichts zur Sache tut.
Aber zurück zum Thema. Sönke Wortmanns „Deutschland. Ein Sommermärchen“ ist sicherlich nicht die definitive Dokumentation zur WM oder gar ein historisch wertvolles Fazit über diese Festwochen, sondern ein simpler und unkommentierter Flashback, der nun zu einem Zeitpunkt kommt, als der graue Alltag längst wieder eingekehrt ist. Die Stimmung verflog leider ziemlich schnell danach und deshalb ist es um so wichtiger noch einmal in nicht ganz zwei Stunden die beeindruckendsten Momente zurück ins Gedächtnis gerufen zu bekommen. Ich gebe zu, ich war emotional doch ziemlich berührt und das passiert mir sonst nie im Kino.
Ehrlich und unparteiisch schildert Wortmann den Werdegang der Deutschen Nationalmannschaft nahezu chronologisch von der Vorbereitung auf Sardinien bis zur Verabschiedung auf der Fanmeile in einfachen Bildern mit sehr vielen interessanten Informationen, weil dieser Blick hinter die Kulissen dem Zuschauer normalerweise verwehrt wird. Klinsmann, als der eigentliche Motivator und Leiter, Jogi Löw als unwahrscheinlich versierter Taktiker und Oliver Bierhoff als Manager waren die Stützen dieses Erfolgs. Wie sie gearbeitet haben, wie Psychologen spielerisch Einfluss auf die Spieler hatten und auf Extremsituationen wie das Elfmeterschießen vorbereiteten und wie gut vor allem das harmonische Mannschaftsgefüge funktionierte, macht Wortmann gut deutlich. Da er wirklich überall mit hin durfte, konfrontiert er der Zuschauer natürlich neben einigen witzigen Anekdoten (Neuville beim Drogentest nach dem Spiel) auch mit einigen Gänsehautmomenten. Hinzu gesellen sich feurige Reden von Klinsmann oder Gags des ewig unbeschwerten Duos Poldi/Schweini. Jens Lehmann und Oliver Kahn sprechen sehr ehrlich über ihren Konkurrenzkampf und wie sie damit umgehen. Klinsmann gibt nachträglich im August in Florida noch einmal ein paar kluge Sätze von sich. Emotionen kochen nach den Siegen und der Niederlage gegen Italien hoch und wirklich alle wichtigen Personen des Stabs kommen kurz zu Wort. Besonders die Worte des Fitnesstrainers und des Psychologen offenbaren ziemlich deutlich wie viel Arbeit hinter dem Unternehmen Weltmeisterschaft steckte.
„Deutschland. Ein Sommermärchen“ ist letztlich kein Film über die WM, sondern über die Truppe, die diese WM allen Unkenrufen und Kritiken im Vorfeld zum Trotz zu einem unvergesslichen Erlebnis machte. Obwohl auf ihnen ein unbeschreiblicher Druck lastete, waren und sind diese Männer doch sehr down to earth geblieben und genau so kommen sie in dieser Reportage auch rüber.
Von der Beschwörung des Mannschaftsgeistes bis zum in meinen Augen total unpassenden Auftreten wichtiger deutscher Politiker, deren Interesse wohl auch mehr geheuchelt als tatsächlich vorhanden war, reißt Wortmanns Zusammenschnitt alle wichtigen Momente ab, die man als Fan und Zuschauer braucht, um die Dimensionen hinter der Mannschaft zu erfassen. Dankbar ignoriert er dabei Funktionäre wie Franz Beckenbauer und konzentriert sich auf die zusammengeschweißte Einheit, die so viel bewegt hat. Von dem einen gibt es mehr, von dem anderen weniger. Das hängt vermutlich mit der Bereitschaft der Beteiligten zusammen, an dem Filmprojekt teilzunehmen. Speziell Oliver Kahn bekommt am Ende aber noch einmal mehr Raum und Jens Lehmann zeigt uns endlich DEN Zettel.
Fazit:
Der Nährwert dieses Films hält sich in der Tat in Grenzen und ich gehe davon aus, dass noch bessere Analysen der Weltmeisterschaft in den nächsten Monaten und Jahren folgen werden, aber diesen Look Inside wird niemand wieder aufbieten können.
Dem nüchternen Kritiker und Nichtfußballfan wird „Deutschland. Ein Sommermärchen“ gewiss zu wenig Substanz haben, wahre Fußballfans bekommen allerdings genau das geboten, was der Trailer schon versprach: Einen fast zweistündigen Blick hinter die Kulissen der Nationalmannschaft zu einer Zeit als in ganz Deutschland der Ausnahmezustand herrschte. Schön, diese Zeit auf so eine Art und Weise noch einmal ins Gedächtnis gerufen zu bekommen. Trotzdem täte es mich mal jucken ins Archiv zu blicken und die gesamten 100 Stunden zu sichten. Wer weiß, was Wortmann alles gefilmt hat...