Mit „Pinocchio“ brachte Walt Disney 1940 den zweiten Langfilm nach „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ in die Kinos. Leider war ihm inmitten der Kriegswirren kein sonderlicher Erfolg beschieden, auch wenn die Kritiken sich berechtigterweise vor Lob überschlugen.
Die Geschichte von der hölzernen Marionette, die über Nacht lebendig wird, aber einen lehrreichen Weg zu beschreiten hat, bis sie zu einem Menschen aus Fleisch und Blut werden kann, nach Carlo Collodi quillt vor Kreativität nur so über und steigert sich in der Hinsicht zum Vorgänger noch einmal. Wer etwa bei „Alice im Wunderland“ schon staunte, wie viele Ideen rund um das Thema Teetrinken beim verrückten Hutmacher untergebracht wurden, findet hier in der Einleitung bereits ein frühes Äquivalent, wenn wir den alten Tischler Gepetto kennenlernen, der nicht nur Puppen schnitzt, sondern auch Uhren baut, und zwar so viele verschiedene, daß man die Zeichner nur bewundern kann. Bereits in dieser Szene, in der Pinocchio noch gar nicht richtig in Erscheinung getreten ist, steckt so viel Liebe zum Detail, daß man den Film auf Anhieb in sein Herz schließt.
Tritt die titelgebende Figur erst auf, wandelt sich der Film zu einem abwechslungsreichen Abenteuer, in dem Pinocchio sich immer wieder zu Handlungen verleiten läßt, von denen er tunlichst Abstand nehmen sollte. Die von der Fee zu seinem guten Gewissen erklärte Grille Jiminy (die in der Vorlage überhaupt keine Rolle spielt, außer zerquetscht zu werden) ignoriert der Holzjunge, denn die Verlockungen, ein Star zu werden oder eine Insel zu besuchen, auf der man tun und lassen kann, was man will, sind zu groß für ihn, weiß er doch noch gar nicht, was Recht und Unrecht ist. Hinter all dem steckt natürlich auch die unübersehbare Moral für die Kleinen unter den Zuschauern, Versuchungen zu widerstehen und lieber auf die innere Stimme der Vernunft zu hören. Das ist wahrlich nicht die schlechteste Moral für einen Film, und auch wenn sie mit dem Vorschlaghammer präsentiert wird, kreieren die Zeichner dabei Bilder, die sich einbrennen.
Die Episode bei dem finsteren Marionettenspieler, der sich eine goldene Nase mit Pinocchio, der einzigen Marionette der Welt, die sich ohne Fäden bewegt, verdienen will und dafür nicht davor zurückschreckt, seine Attraktion in einen Käfig zu sperren, hat schon so seine düsteren Momente, die aber noch überboten werden von dem Geschehen auf der Vergnügungsinsel, auf der ein noch böserer Mann ungezogenen Jungen vermeintlichen Spaß verspricht, aber mit diesen doch ganz andere Pläne verfolgt. In einer der wohl unheimlichsten Szenen möglicherweise sogar der Disney-Geschichte verwandelt sich Pinocchios nichtsnutziger Gefährte Lampwick, der ausschließlich Zigarren und Bier zu konsumieren scheint, in einen Esel, der daraufhin an einen unbekannten Ort verschifft wird – im Übrigen nur ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr Disney und seinen Mitarbeitern im Vergleich zu den heute meist anspruchslos unterhaltenden Animationsfilmen daran gelegen war, Botschaften zu transportieren und neben Witz und Niedlichkeit auch mal Unheilvolles und schwerer Verdauliches aufzufahren, woran auch die kindliche Zielgruppe durchaus etwas nagen kann, anstatt immer nur zu lachen.
Danach hat Pinocchio seine Lektion gelernt und macht sich notgedrungen bereit für ein gigantisches Unterwasserabenteuer, weil sein Schöpfer und „Vater“ auf der Suche nach dem verlorenen „Sohn“ von einem riesigen Walfisch verschluckt wurde und nun im Inneren ausharrt, ohne Hoffnung, jemals wieder herauszukommen. Immerhin hält er sich am Leben, indem er Fische angelt, die der Wal frißt. So abstrus das alles klingt, so imposant und unglaublich phantasievoll ist das zeichnerisch alles umgesetzt und es macht wirklich Spaß, sich an all dem zu ergötzen, was hier an Ideen verarbeitet wird, weil hier jede Sekunde beweist, daß die Macher dieses Films das Kind in sich entweder nie verloren oder wiederentdeckt haben. Und das Beste daran: Sie entfachen mit ihrer eigenen Begeisterung auch das kindliche Feuer im erwachsenen Zuschauer. Ein reiner Glücksfall zudem, daß auch die Szenen, die gemeinhin von den Älteren immer mal als zu rührselig angesehen werden, tatsächlich anrührend sind, namentlich die, in denen Gepetto bei Nacht und Regen aufbricht, um Pinocchio zu finden.
Geschmackssache sicherlich wieder die Songs, aber mit „Hi-Diddle-Dee-Dee“ ist zumindest einer dabei, der ins Ohr geht und nicht sofort wieder vergessen ist, aber selbst wer sich mit dem Gesang schwer tut, wird zugeben müssen, daß „Pinocchio“ ein Erlebnis ist, dem man sich kaum entziehen kann und bei dem man sich wünschen würde, es einmal auf der großen Leinwand sehen zu dürfen. Ein ganz, ganz toller und aufgrund seiner visuellen Pracht und inhaltlich nahezu grenzenlosen Einfallsreichtums faszinierender Film, den man, ohne zu zögern, in die Top-Drei der besten Disneys einsortieren kann. 9/10.