Ich kann mich noch an den Augenblick erinnern, in dem ich bei einer Fernsehwerbung zum ersten Mal einen Ausschnitt aus Matt Groenings neuer Serie erblickte. Für einen Simpsons-Fan ein wahrhaft bedeutender Moment. Vor allem aber ein Moment der Skepsis, des Mißtrauens, der kritischen Begutachtung.
Bei dem Ausschnitt handelte es sich um die Szene, in der Fry und Leela im Cockpit des Raumschiffs stehen, als plötzlich von außen ein winziger Planet an der Scheibe zerplatzt, von dem man noch kurz vorher dachte, dass er sich tausende von Kilometern entfernt befände. Zweifellos ein gelungener Gag, wird man jetzt in der Post-Futurama-Phase sagen.
Die Skepsis blieb dennoch bestehen. Sicherlich hat der hiesige Simpsons-Veteran mehr als genug Gründe gehabt für sein Mißtrauen in des Meisters zweites Standbein. Dem muß ich mich auch anschließen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass das neue Projekt auch nur annähernd in die Nähe des gottgleichen Status Springfields gelangen könnte.
Was habe ich mich geirrt.
Wie ist nun zu erklären, dass Futurama schon verurteilt wurde, bevor man auch nur eine Folge zu Ende gesehen hatte?
Zum einen war zu befürchten, dass sich das neue Projekt zu sehr an den Simpsons orientieren würde. Eine visuelle Distanzierung vom großen Bruder war eine unabkömmliche Voraussetzung für einen Erfolg. Eine Springfield-Variation mit irgendwelchen Homer-Verschnitten wollte jedenfalls niemand sehen; stattdessen mussten innovative neue Designideen her.
Andererseits musste auch ein gewisser Wiedererkennungswert garantiert sein. Die Fans wollten schließlich trotz allem eine waschechte Groening-Marke vorgesetzt bekommen. Hier haben wir das Dilemma, von dem jeder Regisseur eines Sequels ein Liedchen singen kann: einerseits schreit der Endverbraucher nach Innovation, andererseits soll die Tradition gewahrt werden. Ein performativer Widerspruch in sich.
Groenings wichtigstes Mittel zur Abnabelung von den scheinbar übermächtigen Simpsons ist die Tatsache, dass sich Ort und Zeit geändert haben. Die Zeit wurde um 1000 Jahre vorgestellt und die Örtlichkeiten wechselten vom gemütlichen Vorortsstädtchen Springfield in die Massenmetropole Neu New York.
Und wieder wird sich der Skeptiker die Hand an die Stirn klatschen. Bei den Simpsons war doch gerade das Erfolgsgeheimnis, dass die Alltagsprobleme der gelben Familie und ihrer Umgebung eine Schnittstelle zum ordinary life boten, bei dem alte Bekannte wie z.B. Schulprobleme, Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, das Erwachsenwerden, Freundschaften oder Liebe thematisiert wurden. Wie sollte das in einer skurrilen, bunten SciFi-Welt voller Aliens und Roboter gelingen?
Soweit zu den Vorbefürchtungen. Schon bei den ersten Folgen wurde ich Zeuge davon, wie sich Groening aus diesem scheinbar undurchdringbaren Teufelskreis befreien konnte. Mit der dritten Folge war jegliche Skepsis in Rauch aufgelöst, und am Ende der ersten Staffel wurde mir bewusst, dass Futurama die einzige Zeichentrickserie war, die wirklich in der gleichen Liga spielte wie die Simpsons (vielleicht mal von "South Park" abgesehen).
Zuerst fiel auf, dass sich der Zeichenstil grundlegend von dem der Simpsons unterscheidet. Insgesamt wirkt Neu New York bunter, surrealer, skurriler, fantastischer und detailreicher (obwohl dieser Aspekt in den neueren Simpsons-Folgen auch zunahm) als die schlicht-hübsche amerikanische Vorstadt. Natürlich liegt das vor allem an der Tatsache, dass wir es hier mit Science Fiction zu tun haben. Die Zeichner müssen sich wie im siebten Himmel gefühlt haben, so viele Freiheiten im Design boten sich hier. Da gibt es solch seltsame Erfindungen wie Selbstmordzellen (ein Seitenhieb auf Überbevölkerung und auf die Depression der Gesellschaft), ein ganz neues Röhren-Verkehrssystem ("Tourist!"), Schwebe-Autos, Chip-Implantate und, und, und.
Der Clou ist folgender: das ganze Stadtdesign hebt sich grafisch deutlich von Springfield ab, und doch ist Groenings Handschrift unverkennbar. Man könnte nicht sagen warum, aber irgendwie ist einem implizit bewusst, dass es sich bei der Serie um ein Projekt der Macher der Simpsons handelt. Das oben geschilderte Dilemma wird also geschickt umgangen. Der Zuschauer bekommt Neues geboten, wird aber auf einer unbewussten Ebene an das Alte erinnert. Bravo!
Um einen Vergleich zu nennen: Mike Judges (ohne Frage wirklich gelungenes) neues Projekt ist grafisch mit seinem MTV-Hit "Beavis & Butt-Head" identisch, was sicherlich ein Kritikpunkt ist, der Futurama nicht anzukreiden ist.
Dieser ganze Aspekt lässt sich 1:1 auf die Charakterzeichnung übertragen. Schon die Anordnung der Protagonisten ist zum Glück keine Familie im herkömmlichen Sinne, sondern eine kleine Lieferfirma. Alleine durch diese Konstellation fällt jegliche Vergleichsmöglichkeit mit dem Vorgänger weg. Aber auch die Figuren selbst sind Unikate, so unglaublich das auch erscheinen mag. Denn wer kann schon die ganzen Charaktere aufzählen, die bei den Simpsons schon ihren Auftritt hatten. Da muss es doch einfach behaviouristische Überschneidungen geben. Und in der Tat findet man manchmal Figuren, die Eigenschaften mit einem Homer oder Bart teilen. Aber diese Eigenschaften verbinden sich mit anderen und werden dadurch in ganz andere Sphären getrieben. Mal ehrlich: zu einem Zapp Brannigan, einem Kif, einer Amy, einem Zoidberg würde mir kein Springfield-Pendant einfallen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, um die Protagonisten, also die Mitglieder der Planet Express Crew, vorzustellen und ihre Funktion in der Serie erläutern.
1. Hubert Farnsworth. Er ist Frys Ur-Ur-Irgendwas-Enkel und gleichzeitig sein einziger Nachfahre. Dabei ist er ein alter Sack, der Prototyp des verstreuten Professors. Sein obligatorisches "Eine gute Nachricht, Freunde" ("Good news, everyone"), das auch schlechte Nachrichten ankündigt, dürfte inzwischen Kultstatus erreicht haben. Überhaupt ist seine unbesorgte, beiläufige Art eine wahre Wonne. Das ganze Geschehen in den Episoden scheint spurlos an ihm vorüberzugehen. Er verkündet nur die neue Aufgabe und scheut sich bei besonders gefährlichen Aufträgen auch nicht davor, schonmal vorsorglich eine neue Crew anzuheuern.
Auch witzig ist sein fehlendes Gespür für Wichtiges. Er kann sich unglaublich für Belangloses wie etwa eine Drahtsammlung begeistern, vergisst aber schonmal, dass er gerade ein Nasen-Teleskop erfunden hat, mit dem man Gerüche im Weltall riechen kann (wer will da schon Kurs auf den Uranus setzen?). Und wen interessiert schon eine "Was-wäre-wenn-Maschine", wenn man einen verlängerten Finger haben kann?
2. Turanga Leela. Sie ist die sexy Ausserirdische mit dem einen Auge; übrigens die einzige Einäugige im ganzen Sonnensystem. Ironischerweise ist gerade sie die Pilotin des Lieferschiffes. Man könnte auf die Idee kommen, sie mit Marge zu vergleichen, was deswegen berechtigt wäre, weil sie die einzige Bodenständige in einem Haufen von Chaoten ist. Allerdings ist ihre Einordnung in den Story-Kontext ganz anders. Oft ist ihre traurige Vergangenheit der Auslöser für eine Story, was man bei Marge eher selten behaupten kann. Der Mutter-Aspekt fällt ebenfalls weg (es sei denn, man betrachtet das ausserirdische Knuddel-Haustier Nibbler als ihr Kind).
Leela wäre aufgrund ihrer rationalen und unimpulsiven Art der typische Kandidat für eine der unbeliebtesten Hauptfiguren, wenn sie nicht - man möge mir das Wortspiel verzeihen - so sehr etwas fürs Auge bieten würde.
3. Philip J. Fry. Für den Zuschauer ist er die Identifikationsfigur, das Fenster zur bunten Zukunftsvision Groenings. Die erste Episode ist ganz ihm gewidmet. Der Zuschauer wird zusammen mit Fry am Sylvesterabend 1999 schockgefroren, und mit ihm wird er 1000 Jahre später wieder aufgetaut und mit einer schönen, neuen Welt konfrontiert. Hier ist das Geheimnis und die Lösung zur zweiten Befürchtung zu finden: ja, die Gesellschafts- und Sozialkritik gelingt auch in Futurama noch so gut wie zu besten Simpsons-Zeiten. Während Springfield als zufällig ausgesuchtes Untersuchungsobjekt wie ein Spiegel zur eigenen Gesellschaft wirkte, sollte man die Zukunftswelt rund um Neu New York als Metapher verstehen. Fry ist der Kanal, durch den beide Welten miteinander verbunden werden. Er ist der klassische Verlierertyp des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Faul, fernsehsüchtig und politisch neutral. Also wie du und ich. Seiner Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem hat er dennoch zu verdanken, dass er sich in einer fremden Welt zurechtfindet, als befinde er sich in seinem Wohnzimmer. Wenn man mal wieder vor einem neuen Lebensabschnitt steht, würde man auch einmal gerne auf die Fry-Philosophie zurückgreifen.
Ganz nebenbei ist er auch noch einer der lustigsten und beliebtesten Charaktere, was nicht zuletzt auch auf die großartigen Sprecher - sowohl in der US- als auch in der deutschen Fassung - zurückzuführen ist. Es macht auch Spaß, einmal über die Dummheit anderer zu lachen. Ist ja außerdem nur eine Zeichentrickfigur, die aber gerade wegen ihrer Dummheit so sympathisch ist. Insofern kann man Fry noch am besten mit einer Simpsons-Figur vergleichen, und zwar mit dem Teenie-Homer. Was ja auch nicht verwunderlich ist, wo er doch die einzige Figur aus dem 20. Jahrhundert ist.
4.Bender. Er ist DER Publikumsliebling der Serie. Darüberhinaus liebt er Alkohol, und seine Kopfform kommt einem verdammt bekannt vor... haben wir ihn hier, unseren Zukunfts-Homer? Falsch, Bender ist ein Roboter. Ein trinkender, klauender, lachender, vergnügungssüchtiger Roboter, der auf Black Jack und Nutten steht.
Zugegeben, der sehr starke Einbau von Robotern, in Groenings Serienkonzept von Anfang an eingeplant, kam mir anfangs etwas dröge und langweilig vor. Wenn man dann aber Bender in Aktion sieht, ändert man seine Meinung schnell. Es hat seinen Grund, dass er beliebtester Charakter ist. Die besten Witze gehen auf sein Konto. Er hat zwar weniger Tiefe als etwa Fry oder Leela, aber dafür kann er seinen humorigen Part voll ausspielen. Ich persönlich muß aber noch erwähnen, dass ich Fry lieber mag.
5.Dr. Zoidberg. Er ist der Mannschaftsarzt. Nur hat er nicht die geringste Ahnung von menschlicher Anatomie, denn er ist ein ausserirdisches Krustentier.
Seine Lebensaufgabe scheint es zu sein, ständig nach Aufmerksamkeit zu suchen. Er will witzig sein, doch keiner lacht. Er will im Mittelpunkt stehen, doch jeder stiehlt ihm die Show. Seine unfreiwillige Komik innerhalb der Serie ist das Tolle an seiner Figur. Alleine sein seltsamer Anblick und seine kauzige Bewegungsweise lässt einen prusten vor lachen. Zoidberg ist das organische Gegenstück zum metallischen Bender (organisch im wahrsten Sinne des Wortes, wie die Roswell-Episode beweist). Ein etwas sinnloser Charakter, aber dafür umso witziger.
6.Amy Wong. Die gebürtige Marsianerin mit asiatischem Touch ist das gutaussehende Partypüppchen. Sie steht in direkter Konkurrenz zu Leela, und so verteilen beide schonmal gerne Seitenhiebe gegeneinander. Ihre Hauptfunktion ist wohl das Erstellen der Dreierkonstellation Amy-Fry-Leela, denn spannungsbedingt gibt es hierdurch einige feurige Episoden. Wollen wir soweit gehen, die Beziehung zwischen Fry und Leela mit der von Mulder und Scully zu vergleichen? Na ja, jedenfalls geht es hier oft um die Liebe. Und die freizügige Amy kann da schnell ein Dorn in dem Auge von Leela sein.
7.Hermes Conrad. Von Beruf Bürokrat. Das passt wie die Faust aufs Auge, denn Hermes ist Jamaikaner. Somit dürfte er der einzige Bürokrat sein, der seinen job leidenschaftlich ausführt.
Gerade in der deutschen Fassung ist Hermes leider ein recht unauffälliger Charakter, da hier der geniale Reggae-Akzent aus dem Original fehlt. Man fragt sich nur immer wieder, wie ein so mäßig attraktiver, dick-dümmlicher Mann an eine so tolle Frau kommt.
8.Scruffy. Hausmeister. Gehört nicht zur Stammcrew. Bekleidet dieselbe Funktion wie Maggie Simpson, nämlich gar keine. Daher keiner weiteren Besprechung nötig.
Soweit zu den Charakteren. Es gibt natürlich noch viele erwähnenswerte mehr, wie eben Brannigan und Kif, Morbo, der böse Weihnachtmann oder Elzar, die man aber hier nicht alle besprechen kann. Man sieht, hier wird erneut eine unglaubliche Vielfalt geboten.
Bei aller Kreativität in der Charakterzeichnung ist aber das Herz jedes Filmes und jeder Serie die Story. Und nicht nur die Zeichner, auch die Storywriter dürfen sich nicht über fehlende Möglichkeiten zur Entfaltung beschweren. Ganze Kulturen werden entworfen. Da hätten wir etwa Riesen-Amazonen, aus Wasser bestehende Völker, die Ureinwohner des Mars, die Invasoren von Omicron Persei 8, feindliche Kampfbälle, fliegende Riesengehirne, ganze Roboterplaneten, das süße Nibblervolk, Kanalisationsbewohner... die Liste nimmt kein Ende. Und wie schon angedeutet, werden bei den wunderlichen Abenteuern auf diesen noch wunderlicheren Planeten mit ihren überwunderlichen Bewohnern auch die Parabeln auf die aktuelle Zeit nicht vergessen. Vor allem kann eine dargestellte Zukunft natürlich zeigen, was mit der Welt noch passieren wird, also die Folgen unserer jetzigen Taten. Groening will aber keine Moralapostel sein. So ist die dargestellte Welt nicht besser und nicht schlechter als die heutige. Wie gesagt, wir haben es hier mit einer Metapher zu tun.
Trotzdem werden auch immer wieder Relikte unserer Zeit eingefügt. Selbst Promis haben wieder Gastauftritte, diesmal als in Wassergläsern konservierte sprechende Köpfe. Auf Unis werden Geschichtsvorlesungen über das 20. Jahrhundert gehalten und auf dem Mond gibt es einen Vergnügungspark, der auf lustigste Art und Weise zeigt, wie man sich in 1000 Jahren die erste Mondlandung vorstellt. Die müssen wohl alle Dokumente unserer Zeit verschlampt haben bei dem, was da rauskommt.
All diese Anspielungen wirken auf den Zuschauer gewissermassen wie Insider. Zusammen mit Fry sind wir die Einzigen, die diese Relikte beurteilen können. Wir kennen die Wahrheit über unsere Zeit und können dementsprechend über die naiven Vorstellungen der Neu New Yorker nur lachend den Kopf schütteln. Toll, wie der Zuschauer immer wieder aktiv ins Geschehen mit einbezogen wird.
Am Ende bin ich fast wunschlos glücklich mit Groenings zweitem Streich. Ich hätte mir vielleicht noch ein paar mehr Anspielungen auf die Simpsons gewünscht. So hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn bei einer Besprechung der Planet Express Crew plötzlich Homer mit seinem Zeitreisetoaster auf dem Tisch aufgetaucht und eine Sekunde später wieder verschwunden wäre. Aber ein paar Anspielungen gibt es ja (die Puppen auf dem Müllberg), und wenn das der einzige Kritikpunkt ist, dann muss Groening verdammt nochmal irgendetwas richtig gemacht haben.
Futurama ist perfekte Unterhaltung mit Tiefgang, die das Optimale aus der schwierigen Ausgangssituation gemacht hat. Das eigentliche Meisterstück dieses Projektes ist es, aus dem riesigen Simpsons-Schatten ins Licht herausgetreten zu sein, um fortan selbst einen ebenso großen Schatten zu werfen.
Umso unverständlicher ist die Absetzung der Serie, die laut Fox auf zu schwache Zuschauerzahlen in den USA zurückzuführen ist. Wenn das stimmt, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Serien wie Futurama werden abgesetzt, während sich Talk- oder Extremshows größter Beliebtheit erfreuen. In Anbetracht dieser Fakten muss man ernsthaft den Anspruch des durchschnittlichen Fernsehzuschauers hinterfragen. Aber das ist ein anderes Thema.
10/10