1997 schickte Erfolgsproduzent David E. Kelley gleich zwei erfolgreiche Anwaltsserien mit völlig unterschiedlichem Konzept ins Rennen. Während „The Practice“ den harten und bitteren Alltag des Strafrechtes zeigt und dabei fast vollständig humorlos blieb ist „Ally McBeal“ mehr dem Bereich Comedy zuzuordnen und konzentriert sich stark auf das Privatleben der spleenigen Charaktere. Während „The Practice“ in Deutschland beinahe unbeachtet blieb avancierte der zweite Geniestreich Kelleys auch hierzulande zum Quotenhit. Die Serie veränderte das Frauenbild im amerikanischen Fernsehen sehr stark, führte den von „Mary Tyler Moore“ und „Murphy Brown“ geebneten Weg weiter und stellte ebenfalls eine erfolgreiche Single-Frau dar, die beruflich und privat vollständig auf eigenen Beinen steht. Ally ist ein Yuppie wie er im Buche steht, aus reichem Elternhaus, Abschluss in Harvard und bedacht auf eine steile Karriere. Immer wieder wird dieser Snobismus in der Serie selbst reflektiert und sarkastisch kommentiert, dennoch liebt Kelley seine Figuren und zeichnet jeden Einzelnen im Grunde sympathisch, egal wie fies und gemein in speziellen Situationen die Sticheleien werden.
Revolutionär sind die in jeder Episode auftretenden Bildeffekte, die die Gedanken und manchmal gar Halluzinationen von Ally visualisieren. Mittlerweile technisch überholt, mutet die ein oder andere Szene ein wenig übermütig an, doch das ist eher die Ausnahme. Die ersten Auftritte des tanzenden Babys sind TV-Kult pur und in ihrer energetischen Beschwingtheit nur selten erreicht. Nicht nur für die verrückten Traumsequenzen in „Scrubs“ standen die hier erstmals in dieser Form genutzten Bildeffekte Pate – im Verlauf der Handlung haben auch immer wieder Personen in Allys Umfeld ähnliche Ticks um die Abwechslung zu wahren. In vielerlei Hinsicht haben auch die jeweiligen Fälle Symbolcharakter für das Privatleben der Figuren, was aber keinen gekünstelten Eindruck hinterlässt, leichtfertig und eloquent bindet Kelley diese Verbindungen in die Drehbücher ein.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die großartige musikalische Begleitung, die beinahe nur aus Songs von Vonda Shepherd besteht. Als Sängerin in der Bar ist sie auch oft zu sehen, interpretiert diverse Klassiker aber auch eigene Songs und zeigt eine große gesangliche Bandbreite. Insbesondere wunderschöne Titel wie „Goodnight my someone“ oder auch „The Only Love I Had“ beziehen sich exakt auf das Seelenleben von Ally, auf ihr Gefühlschaos, ihr Verhältnis zur großen Jugendliebe Billy oder ihre Auffassung von wahrer Liebe im Allgemeinen. Unter der chauvinistischen Oberfläche tritt stets Allys Glaube an ‚den Einen’, jenen Mann, der ihr Leben endlich komplettiert. Diese romantisch-altmodische Liebesauffassung wird zwar immer wieder durch harte Schläge erschüttert, jedoch bis zum Ende aufrechterhalten.
Staffel 1:
Ally trifft einen alten Bekannten von der Uni, Richard Fish, der zusammen mit seinem Partner John Cage eine Kanzlei eröffnet hat und ihr überraschend einen Job anbietet. Der Beginn einer fünfjährigen Ära…
Der Hauptfigur selbst wird zwar selbstverständlich die meiste Screentime zugestanden, doch schon in der ersten Staffel ist jedem Zuschauer eines klar: Ohne die liebenswürdigen, völlig verrückten Nebencharaktere hätte Ally keine Chance gehabt. Schon die beiden Seniorpartner Richard und John sind perfekt gezeichnet und hervorragend besetzt. Während der exzentrische John mit allerlei Ticks zu kämpfen hat ist er dennoch der weit und breit beste Prozessanwalt, Richard ist eher der Manager und zumeist nur für Formalitäten und die Geschäftsleitung zuständig. Vor Gericht tritt er nur selten auf, seine offen vorgetragenen sexistischen und homophoben Ansichten bringen seine Freunde regelrecht and den Rand der Verzweiflung.
Als Zuschauer fühlt man sich, wie eigentlich in jeder Serie von David E. Kelley, sofort vertraut mit den Protagonisten und bestens unterhalten mit originellen Fällen und einer starkem Dialogwitz. Calista Flockhart, Greg Germann und Peter MacNichol harmonieren bestens mit dem restlichen Ensemble, Sidekicks wie die neugierige Sekretärin Elaine (Jane Krakowski) verleihen dem bunten Treiben die rechte Würze.
Stilistisch, darstellerisch und inszenatorisch ist bereits die erste Staffel ein ganz großer Wurf und entwickelte sich sofort zum internationalen Hit. Die oben angesprochenen Innovationen überzeugen mit stimmiger Vermischung verschiedener Stilmittel zu einem ganz und gar zeitgemäßen Portrait der erfolgreichen, neurotischen Großstadt Yuppies und einer einflussreichen Sichtweise auf das gewählte Setting. (8,5/10)
Staffel 2:
Neu hinzugefügt zum Stamm-Cast wurden Lucy Liu als biestiges Miststück und Portia de Rossi als `eiskalte Nelle`. Die Ergänzung kann sich sehen lassen, komplettiert das Ensemble spürbar und „Ally McBeal“ läuft zu Höchstleistungen auf. Selbiges gilt für die fein geschliffene Situationskomik, vor allem die persönlichen Gespräche auf der kultigen Unisex-Toilette, welche elegant ergänzt wird mit den schon angesprochenen Tagträumen. Wenn sich auch typische Erscheinungen zu wiederholen beginnen, so bleibt die ausgelassene Energie der größte Trumpf der handlungsarmen, dennoch vielleicht stärksten und innerlich rundesten, zweiten Staffel.
Obwohl sich die Geschichte nur kleinschrittig weiter entwickelt offenbaren sich in der zweiten Staffel noch keine Abnutzungserscheinungen, auch wenn sich die Storyline um Ally und Billy ein wenig im Kreis dreht. Die Beziehung zwischen den beiden und Billys Ehefrau Georgia birgt genug Konfliktpotential um diese Tempoarmut hinreichend zu rechtfertigen. Immer noch ist kein bisschen Luft raus und erst in der nächsten Staffel sollte es zu gravierenden Einschnitten in das gewohnte Szenario kommen.
Schon in den ersten beiden Staffeln klingen grundsätzliche Themen wie Tod, Verlust, Suche nach der eigenen Identität und innerem Glück in den leisen Momenten durch, die sensible Herangehensweise an die ungewöhnlich melancholisch gestalteten Themen setzt „Ally McBeal“ weit ab von der Masse oberflächlicher Comedy-Produktionen. Nach einem starken Auftakt schaffte Kelley sogar eine marginale Steigerung, verwöhnt den Zuschauer mit intelligenten Plot-Twists und tiefgehender Emotion. (09/10)
Staffel 3:
Die Protagonisten sind Freunde geworden und das ist es, was die besondere Atmosphäre der Kanzlei ausmacht: Mitarbeiter treffen sich in der Bar unten im Gebäude und tanzen gemeinsam, reflektieren die aktuellen Ereignisse ähnlich wie es die Balkon-Schlussszenen bei „Boston Legal“ auch tun. Die Spannungsverhältnisse sind aber im Groben die Gleichen geblieben, genau wie die Figurenkonstellation, so entschied sich Kelley für einen groben Schnitt in der Handlung. Eine Tragödie erschüttert mitten in der seicht dahin plätschernden Staffel: Billy stirbt überraschend schnell und heftig an einem Hirntumor, seine Sterbeszene sowie die darauf folgende Trauerfeier in der Episode „Kurz und schmerzvoll“ ist meiner Meinung nach der intensivste emotionale Höhepunkt, den eine TV-Serie je erreichen konnte.
Eine weitere Besonderheit ist das überragend gestaltete Staffelfinale „Not nach Noten“, in der die Musikalität der Serie auf die Spitze getrieben wird. Inszeniert ist die Episode durchweg als klassisch gestaltetes Musical, in dem die gesamte Besetzung selbst singt, auch bei diesbezüglich vorhandenen Defiziten. Dasselbe Prinzip wurde später auch bei einer Episode der Mysteryserie „Buffy“ übernommen („Once More with Feeling“).
James LeGros ersetzt als Mark Albert den gestorbenen Billy und hat einen schweren Einstand. Nicht nur fiktiv in der Kanzlei, dem Zuschauer fällt es ebenso schwer den Neuen zu akzeptieren wie Ally in der Serie. LeGros spielt einwandfrei und bekommt ausreichend Screentime, kann sich aber nicht in der Sympathie des Publikums verankern und verschwindet nach weniger als einer kompletten Season unauffällig. Mit seiner Figur tritt erstmals das typische Problem Kelleys auf, denn oftmals geht der Creator und Autor zu unsensibel mit diesen um, sodass sie ohne große Erklärung schlichtweg verschwinden. (09/10)
Staffel 4:
Mit Robert Downey Jr. alias Larry scheint Ally ihren Traummann gefunden zu haben und durchlebt mit ihm die längste Beziehung innerhalb des Handlungsrahmens der Serie. Downey spielt seine Rolle charmant und emotional, hat in der vierten Staffel eine Hauptrolle und wird sogar im Vorspann berücksichtigt.
Ebenfalls großartig ist Anne Heche als Melanie, in der John Cage scheinbar seine Traumfrau gefunden zu haben scheint. Die Beziehung zerbricht weil sie keine Kinder will und niemals heiraten. Mit ihrem Tourette-Syndrom und den daraus resultierenden Ticks fühlt sich John zu ihr seelenverwandt und macht eine schwere Trennung durch. Peter MacNicol lebt seinen Charakter intensiv und authentisch aus, spielt Cage sowohl würdevoll als auch verletzbar und unsicher. Mit seiner sympathischen Ausstrahlung mausert er sich beinahe zum heimlichen Star, auch wenn Richard und Ally ebenfalls sehr starke Szenen bekommen.
Leider verließ Courtney Thorne-Smith die Serie nachdem ihrer Rolle kaum mehr Präsenz zukam und sie nach Billys Tod als Georgia nur noch eine schablonenhafte Randfigur ohne wichtige Szenen geworden war. Anschließend übernahm sie die weibliche Hauptrolle in der immer noch sehr erfolgreichen Sitcom „According to Jim“. Lisa Nicola Carson, die als Allys beste Freundin eine wichtige Rolle hatte, doch ebenfalls nur selten in wichtigen Handlungssträngen präsent war, wurde aufgrund ihres Verhaltens entlassen und auch ihrer Figur bescherte man einen sehr unrühmlichen Abgang. Für ein versöhnliches Cameo in der letzten Episode der fünften Staffel hat es dann aber doch noch gereicht. (07/10)
Staffel 5:
Christina Ricci gibt in den letzten Episoden eine erbärmliche Kopie von Lucy Liu ab, ohne das man ihr den eiskalten Zynismus jemals abnimmt. Ihre Arroganz wirkt aufgesetzt und unecht überstilisiert, darüber hinaus lässt auch ihre erotische Ausstrahlung zu wünschen übrig. Als größter Fehlschlag erweist sich die Verpflichtung des australischen Komikers Barry Humphrey. Er ist zu sehen als Dame Edna Everage, ein hierzulande fast gänzlich unbekannter fiktiver Charakter, der Australier ist zu sehen als Drag-Queen mit lila Haaren, schriller Stimme und ekelhaftem Aufstoßen. Hunphrey ist schon seit rund dreißig Jahren als Edna bekannt und beliebt, passt aber nicht in das Gesamtkonzept der Serie. Als schriller Gaststar wäre er sicherlich eine gewohnt schräge Lachnummer geworden, die Figur aber derartig tief in die Handlung einzubinden schadet Kelleys Erfolgsserie ungemein. Trotz aller berechtigten Kritik befindet sich das Niveau der einzelnen Episoden aber immer noch auf einem gehobenen Niveau, nicht alle Stärken verschwinden gänzlich. Selbst ohne John Cage und viele andere hören wir immer noch einen sehr schönen Soundtrack und werden gut unterhalten.
Zu Recht wird oft die Charakterwandlung Allys gescholten, die in der letzten Staffel weitaus verrückter erscheint und noch viel mehr Screentime als zuvor bekommt. Unweigerlich wirken die mittlerweile immergleichen Neurosen, die schon in der vierten Staffel beinahe den Bogen überspannten, nur noch aufgesetzt und längst nicht mehr lustig. Ihre Tochter macht da schon einiges wett mit ihrer zurückhaltenden Art, Hayden Panettiere („Heroes“) schafft es, ihre Rolle glaubwürdig und zugleich sympathisch auszufüllen. Ally findet ihr Glück (zunächst) nicht in einer festen Beziehung sondern durch ihre Tochter, von deren Existenz sie bis zum zehnten Lebensjahr nichts wusste. Diese verrückte Wendung steht ganz in der Tradition der Serie und sorgt für einen konsequenten Schlusspunkt. Ally muss wegen ihrer Tochter nach New York ziehen und kehrt Boston den Rücken.
Das Serienfinale „Goodbye Ally“ macht keine falschen Versprechungen in Bezug auf die Zukunft ihrer Figuren, blickt dieser Zukunft aber hoffnungsvoll und positiv entgegen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein bitterer Abschied mit Tränen und den hat „Ally McBeal“ selbst in Anbetracht der schlechten letzten Staffel eindeutig verdient. (05/10)
Diverse Gastauftritte runden das Gesamtbild harmonisch ab, dabei reicht das Spektrum von unauffälligen Cameos (Bruce Willis als Psychiater) über wichtige Rollen über eine oder zwei Episoden (John Ritter als Charmeur) bis hin zu Nebencharakteren, die über einen längeren Zeitraum in die Handlung eingebunden werden (Jon Bon Jovi als romantischer Handwerker in der letzten Staffel).Weiterhin sind außer Bon Jovi auffällig viele Größen der Popmusik zu sehen, unter anderem Barry White (dessen Musik ohnehin einen wichtigen, wenn auch kleinen Bestandteil zum Soundtrack der Serie ausmacht), Tina Turner, Sting, Barry Manilow, Anastacia, Mariah Carey oder Elton John. Allesamt singen sie ein obligatorisches Ständchen in der Bar und schmücken die jeweiligen Episoden mit ihrem glamourösen Charisma.
Die Karriere von Hauptdarstellerin Calista Flockhart geriet nach dem Ende von „Ally McBeal“ stark ins Wanken und stagnierte beinahe völlig. In den Schlagzeilen war sie nur noch gelegentlich wegen Verdachtes auf Bulimie und natürlich wegen ihrer Ehe mit Hollywoodstar Harrison Ford zu sehen. Erst im letzten Jahr startete sie ein ambitioniertes Comeback mit der dramatischen Serie „Brothers & Sisters“.
Gesamtfazit: David E. Kelley hat es einfach drauf – nach „Doogie Howser“, „Chicago Hope“ und „Picket Fences“ beschert er der damals längst noch nicht so fruchtbaren TV-Welt die wohl besten Anwaltsserien aller Zeiten. „Ally McBeal“ war ein Herzensprojekt, jede Episode stammt aus der Feder Kelleys, auch wenn er leider zum Schluss nicht mehr die gigantische Qualität der ersten drei Staffeln halten konnte. Mit diesen jedoch setzte er Maßstäbe und begeisterte ein Millionenpublikum. Noch heute ist „Ally McBeal“ frisch, unterhaltsam und fast genauso zeitgemäß wie Ende der 90er.
08 / 10
Unter dem Titel „Ally“ schlachteten die Produzenten den Namen noch weiter aus, dort wurden alle Handlungsstränge um die Arbeit gestrichen und nur jene Szenen recycelt, die Allys Privatleben schildern. Auch wenn die Episoden mit bisher ungesehenem Material aus dem Schneideraum der Originalserie aufwarten, so stellt sich doch die Frage nach der Existenzberechtigung einer solchen Resteverwertung.