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Der spanische Regisseur Nacho Cerdà, der seinerzeit mit seinem Kurzfilm „Aftermath“ berüchtigt wurde, drehte im Jahre 2006 mit dem in spanisch-bulgarisch-britischer Koproduktion entstandenen Horrorfilm „The Abandoned – Die Verlassen“ seinen ersten Film in Spielfilmlänge.

Marie Jones (Anastasia Hille, „The Hole“), gebürtige Russin, aber bereits kurz nach der Geburt von einem britischen Paar adoptiert worden, lebt in den USA und verdingt sich als Filmproduzentin. Ihre biologische Mutter hat sie nie kennengelernt. Als ein Notar ihr eröffnet, dass sie das elterliche Gut geerbt hat, reist sie nach Russland, um das verfallene Haus, das sich auf einer abgelegenen Insel befindet, aufzusuchen. Plötzlich wird sie mit einer ihr verdammt ähnlich sehenden, geisterartigen Erscheinung konfrontiert und trifft zudem auf den Soldaten Nicolai (Karel Roden, „Orphan – Das Waisenkind“), der sich als ihr Zwillingsbruder vorstellt, dem sie aber zunächst misstraut. Welches dunkle Geheimnis birgt das Gebäude, was hatte es mit ihren Eltern auf sich und wie soll sie jemals wieder von der Insel herunterkommen?

Grob einordnen lässt sich „The Abandoned“ als Geisterhausgrusler. Das von Cerdà zusammen mit Karim Hussain und Richard Stanley verfasste Drehbuch birgt eine eigentlich nicht sonderlich komplexe Handlung, die jedoch relativ umständlich und in verschiedenen Zeit- und Bewusstseinsebenen verschachtelt erzählt wird. Diese wird visuell eingefangen von der künstlerischen Kamera Xavi Giménez’ („The Nameless“), der fantastische Bilder voll düsterer, trister, auswegloser Stimmung mit Blick für Details und eine (in Bulgarien statt Russland gedrehte) gleichzeitig unwirtliche wie faszinierende Landschaft erzeugt. Zusammen mit einem sich morbide in die Gehörgänge schleichenden Soundtrack und sorgfältig ausstaffierten Kulissen eines Anwesens, das sämtliche Schutz- und Herbergsfunktionen eingebüßt hat, entsteht eine hochgradig gruselige, organische Atmosphäre, die sich anfühlt wie der Biss in einen fauligen Apfel. Einmal mehr beweist ein Spanier, dass er und seine Landmänner in den letzten ein, zwei Jahrzehnten ein Gespür für so etwas haben, wobei ich „The Abandoned“ klar an der Spitze spanischer Genrebeiträge sehe.

Die 40-jährige Hauptdarstellerin, die eine ebenso alte Rolle spielt, lässt man weitestgehend klischeefrei agieren und ein Stück Normalität in einem abnormen Ambiente bieten, das zur Identifikation, nicht aber zur Idealisierung durch den Zuschauer taugt. Karel Roden als Nicolai stellt ebenfalls sein schauspielerisches Talent unter Beweis. Man lässt ihn immer etwas mehr wissen als Marie, ihr stets einen Schritt voraus sein und souveräner erscheinen, letztendlich jedoch genauso zwischen verzweifelter Resignation und Kampfeswille pendeln. Die meiste Zeit beobachtet man diese beiden Hauptfiguren, wie sie nach und nach das Geheimnis des Hauses und die mit ihm in Verbindung stehende Familientragödie zu entpuzzeln versuchen. Häppchenweise, jedoch inhaltlich nicht allzu überraschend offenbart sich das gesamte Ausmaß, wobei die verklausulierte Erzählweise bisweilen etwas anstrengt, jedoch nicht so sehr, dass sie Enttäuschung hervorrufen würde. Sparsam und effektiv eingesetzte blutige Effekte verkommen zu keinem Selbstzweck, sondern betonen die gleichsam diffuse wie handfeste Gefahr des Orts. Außerdem kommen die fiesesten Wildschweine seit „Razorback“ und „Hannibal“ zum Einsatz.

„The Abandoned“ ist ein atmosphärisch perfekter, inhaltlich trauriger Film über die Unabänderlichkeit des Schicksals, der in seiner pessimistischen Ausrichtung das Verlassenwerden als Glück begreift. Ich liebe diese ernsten, humorfreien Iberen-Grusler, die der Stimmung eines verregneten Abends oder einer stürmischen Nacht die Krone aufsetzen und auch ein genreerfahrenes Publikum noch wirkungsvoll zu erschrecken verstehen. Deprimierend und dabei doch so kunstvoll und unterhaltsam – hervorragend geeignet für die gewissen Momente im Leben, in denen man sich in eine solche Gefühlslage hineinsteigern muss, um sie überwinden zu können. Oder eben einfach klassischer, in der Neuzeit angekommener Grusel auf ziemlich hohem Niveau, der die Vermittlung einer intensiven Stimmung hektischer Effekthascherei vorzieht und sein Publikum ernstnimmt, statt es für ADHS-Patienten zu halten.

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