Stanley Kubrick sagte einst über seine Verfilmung von Vladimir Nabokovs Roman Lolita: „Wenn Lolita ein Misserfolg geworden ist, dann nur, weil das Erotische fehlt.“ Naja, wer eine etwas erotischer angehauchte Version des Literaturklassikers sehen will, kann auf Adrian Lynes Verfilmung aus dem Jahre 1997 zurückgreifen; denn mit einem hatte Kubrick Recht: auf visuelle Erotik wartet man hier vergebens (und das ist meines Erachtens auch gut so!). Mit seiner anderen Aussage hatte Kubrick jedoch keineswegs Recht: seine „Lolita“ ist alles andere als ein Misserfolg geworden, „Lolita“ ist ein hervorragender Film geworden!
Der Engländer Humbert Humbert (James Mason) quartiert sich bei seinem Aufenthalt in Ramsdale (New Hampshire) bei der Witwe Charlotte Haze und deren frühreifer Tochter ein. Mit der Zeit wird er sich immer mehr seiner Gefühle bewusst und heiratet schließlich Charlotte. Doch nicht seine Ehefrau ist es, die er begehrt. Er begehrt seine Stieftochter – Lolita!
Kubricks Verfilmung beginnt mit dem eigentlichen Ende des Filmes, mit der Ermordung des Schriftstellers Clare Quilty (Peter Sellers) durch den Literaturprofessor Humbert Humbert. Und diese Ermordung wirft sogleich Fragen auf nach dem „wieso“, „was“ und „wie“… Die letzten Worte Quiltys sind die letzten Worte eines Gedichtes, das Humbert ihm zum Vorlesen vorlegt:
Für alles, was du tatest… für alles, was ich nicht tat… musst du sterben.
Der tiefere Sinn dieser Worte soll dem Zuschauer erst mit zunehmendem Filmverlauf offenbart werden. Begleitet von dieser Offenbarung wird die Entwicklung der Beziehung zwischen der jungen Lolita und Humbert Humbert nachgezeichnet; eine Beziehung, die eine Schlangenlinie von Distanziertheit zu inniger Zuneigung wieder hin zur Distanziertheit begeht. Dabei bemerkt der Zuschauer die Entwicklung Humberts vom gesitteten, rationalen Gelehrten hin zu einem von seinen Emotionen geleiteten Abbild seiner selbst, das nur noch äußerlich Ähnlichkeit mit seinem früheren Ich aufweist.
Ich kann nicht genau sagen, an welchem Tag ich mit unumstößlicher Gewissheit festgestellt hatte, dass ein fremder Wagen uns verfolgte. Seltsam, wie falsch ich das, was man sonst Schicksal nennt, deutete…
Das Schicksal tritt in Person des in der ersten Szene ermordeten Quilty auf, doch weiß der Zuschauer noch immer nicht, was es mit diesem Schicksal, diesem undurchschaubar erscheinenden Clare Quilty auf sich hat… Quilty schlüpft in immer neue Rollen, um die Beziehung zwischen Humbert und seiner Lolita zu ergründen, ohne dass Humbert merkt, dass die Personen, mit denen er in dieser Hinsicht in Kontakt kommt und die Person, die den beiden auf ihrer Reise folgt, ein und dieselbe sind. Das Wissen darüber, dass ihre Beziehung verboten ist und die immer stärker werdende Befürchtung, dass man den beiden auf die Schliche kommt, führt Humbert in die innere Zerrissenheit, in eine Paranoia, die immer stärker wird und schließlich die Liebe gefährdet.
„Lolita“ gewinnt seine faszinierende Wirkung aus der literarischen Vorlage Vladimir Nabokovs aus dem Jahre 1958. Aber ohne die filmische Leistung Kubricks wäre mit Sicherheit niemals ein so guter Film daraus geworden. Der als schwer verfilmbar geltende Stoff wird vom Altmeister so gekonnt auf die Leinwand gebannt, dass man das Prädikat „schwer verfilmbar“ nicht immer verstehen kann. Er trifft die Kernaussage des Romans punktgenau, projiziert das Thema des „Wollen, aber gleichzeitig nicht dürfen“, das Thema des „Begehren, aber nicht immer Bekommen“ so eindrucksvoll in den Stoff hinein, dass jeder Zuschauer sich – auch ohne das eigentliche Begehren Humberts moralisch nachvollziehen zu können – seine Botschaft extrahieren kann. James Mason als Humbert Humbert stellt stärker als es fast 40 Jahre später Jeremy Irons schaffte, die innere Zerrissenheit des Gelehrten, der eine verbotene Frucht begehrt, dar; Sue Lyon (Lolita) überzeugt in sämtlichen Phasen des Films, agiert als Kind gebliebene Frau und als (zu) erwachsenes Mädchen so, wie es der Verlauf der Geschichte benötigt. Und Peter Sellers (als Clare Quilty) ist sowieso immer schauspielerische Wonne, die es hier schafft, trotz des ernsten Themas dem Zuschauer das eine oder andere Schmunzeln abzuringen.
Du vergisst mich nicht!
Ja, Humbert wird Lolita wohl nie vergessen haben. Und auch der Zuschauer wird „Lolita“ nicht so schnell vergessen… 9 von 10 Punkten!