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„Im zeitlichen Umfeld der Produktion von DR. MABUSE, DER SPIELER gehörten Terror und Destabilisierung zum Alltag der Weimarer Republik[…]“„‘Kein wesentliches Symptom der Nachkriegsjahre fehlt. Börsenmanöver, okkultistischer Schwindel, Straßenhandel und Prasserei, Schmuggel, Hypnose und Falschmünzerei, Expressionismus und Mord und Totschlag.‘“(1)

Was für eine Zeit das war. Auf den Straßen erschlugen sich die rechten und linken Fanatiker gegenseitig, in den Mietskasernen verhungerten die Menschen angesichts einer immer schneller steigenden Inflation, und an den Börsen wurden genauso wie an den Spieltischen der Kasinos Milliardenbeträge mit einem Hohnlächeln verprasst. 376 politische Morde zwischen 1919 und 1922, zunehmend schnellere Regierungswechsel, und ohne kriminelle Energie sind damals wahrscheinlich nur die Wenigsten noch vernünftig durchs Leben gekommen. Den abwärtsgerichteten Taumel dieser Jahre kann man sich heute kaum noch vorstellen, und die Filme dieser Zeit als bewegte Zeitzeugen können aus technischen Gründen meist nur andeuten, was sich der Realität des körnigen und zappeligen Schwarzweiß eines Stummfilms entzieht.

Stummfilme, das sind doch diese schwarzweißen (prust) und komischen Männchen die sich viel zu schnell bewegen (lach) und überhaupt kann man das ja gar nicht ernstnehmen. Stummfilme werden im Allgemeinen heute mit Dick und Doof und Charlie Chaplin gleichgesetzt, unter Cineasten kennt man dann noch DAS KABINETT DES DR. CALIGARI und METROPOLIS, und das war‘s. Der Filmkanon des 21. Jahrhunderts selektiert gnadenlos aus, und was älter ist als 20 Jahre und/oder nicht aus einer fortwährenden Anordnung von Explosionen und vermeintlichen Schockeffekten besteht, das hat entweder komisch zu sein, oder melodramatisch, oder eine Berechtigungsexistenz wird schlichtweg geleugnet.

Ja, ich weiß, ich übertreibe maßlos. Aber wo bleibt in diesem Kanon ein Film wie DR. MABUSE, DER SPIELER? Rund 100 Jahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges und der ersten deutschen Republik bleibt der Blick auf die vergangenen Ereignisse, die tatsächlich bis heute unsere Zeit prägen (nämlich durch die damals gezogenen, weltweiten Grenzen genauso wie durch die, in dieser Zeit entstandenen, extremistischen Strömungen), den Reden der Politiker und den bewegten Illustrierten eines Guido Knopp und seiner Epigonen überlassen. In einer besseren Welt würde DR. MABUSE in den Schulen gezeigt werden, müssten Aufsätze über den Film und seine Entstehungszeit geschrieben werden, müssten höhere Schüler die damaligen Entwicklungen und ihre heutigen Erben analysieren. Und staunen, wie aktuell so ein alter Film sein kann.

Dr. Mabuse will die Menschen beherrschen, und seine Mittel heißen Terror und Angst. Kommt das bekannt vor? Wobei, ich bin mir nicht sicher ob beherrschen hier das richtige Wort ist. Mabuse will zwar eine Herrschaft des Schreckens aufbauen, aber sein Weg ist das Spiel. Mabuse weiß, dass fast alle Menschen gerne spielen, viele sogar süchtig danach sind. Und auch er spielt - Mit Leben und mit Seelen, und wer sein Opfer wird, der wird auch über kurz oder lang dem Tod anheimfallen. Ein Ende, das Mabuse schon gar nicht mehr interessiert. Es empfindet Freude daran, andere Menschen in den Untergang zu führen, Verbrechen um des Verbrechens willen zu begehen. Mabuse ist bei den Menschen wenn er sie verführt, er ist bei ihnen um sie beim Abstieg in die Hölle zu begleiten, doch wenn die gequälte Kreatur dann in den Zusammenbruch taumelt, da ist Mabuse schon längst wieder woanders. Beim nächsten Opfer, das sich seinen Einflüsterungen nicht widersetzen kann.

Kommt das bekannt vor? Zwischen Heilsversprechern und Verschwörungstheoretikern bietet auch das 21. Jahrhundert solche Verführer. Populisten werden sie heute genannt, knapp 90 Jahre nach demjenigen der sich hat Führer nennen lassen, aber sie sind alle Mabuses, die ausschließlich ihr eigenes Heil und das Interesse am Leid anderer eint.

Wenn wir in den Film schauen, können wir als Beispiel den Grafen Told hernehmen, dargestellt von Alfred Abel. Ein Hobbynaturwissenschaftler, ein der Welt entrückter und völlig vergeistigter Adliger, der mit der Welt der Normalsterblichen, die aus Hunger und dem täglichen Kampf um Arbeit besteht, nicht das Geringste zu tun hat. Seine Frau Dusy ist vom Leben angeödet. Sie treibt sich in Spielhallen und Kasinos herum um Abwechslung und Spannung zu suchen. Gräfin Dusy Told spielt nicht, sie beobachtet. Doch alles was sie beobachtet ist entweder uninteressant oder langweilt schnell. So wird Mabuse auf sie aufmerksam, als Muse der Spieler die sie ist. Er „verliebt“ sich in sie, was nichts anderes heißt, als dass er sie besitzen will, und dafür muss ihr Mann sterben. Bei einer Soiree zwingt Mabuse den Grafen Told zum Spielen. Und nicht nur das: Er, der noch nie in seinem Leben gespielt hat, wird unter Mabuses Einfluss zum Falschspieler - Und fliegt auf! Seine Bekannten verlassen ihn, seine Freunde meiden ihn, sogar seine Frau verlässt ihn. Vermeintlich, denn in Wirklichkeit hat Mabuse Dusys Schwäche ausgenutzt und sie entführt. Graf Told ist einsam und am Boden zerstört, und in seiner Qual geht er in die Behandlung zu einem bekannten Psychoanalysten: Dr. Mabuse …

Oder nehmen wir Hull. Hull ist der Erbe eines 90 Millionen schweren Schiffsmagnaten, und Hull spielt gerne. Mabuse spielt also gegen Hull, und Hull verliert. Und verliert. Und verliert. Selbst als Hull ein As und eine Zehn auf der Hand hat ist ihm unter Mabuses hypnotischem Einfluss klar, dass er schon wieder verloren hat, und sein ganzes Vermögen an Mabuse geht – Er gibt auf! Hull ist aber noch nicht am Ende – Er verliebt sich in die Tänzerin Cara Carozza, ahnt jedoch nicht, dass diese eine Schachfigur Mabuses ist, die nur Befehle ausführt. Die der Meinung ist, dass Mabuse sie liebt, und selbst als sie im Gefängnis sitzt und Mabuse ihr Gift schickt, kann sie sich seinen Befehlen nicht widersetzen, denn eigentlich liebt Mabuse sie ja ...

Komische Männchen die sich viel zu schnell bewegen? DR. MABUSE ist düster und ernst. DR. MABUSE entfaltet ein menschliches Drama vor einem Hintergrund, der, obwohl er grundlegend künstlich ist (der Film wurde bis auf eine Sequenz ausschließlich im Studio gedreht), doch in keiner Sekunde künstlich, sondern wie aus dem Leben gegriffen wirkt. Der Aufstieg und Fall eines Menschen, der durch Terror und Destabilisierung Macht erlangen will – Kommt das bekannt vor? Dabei werden zeitgenössische Schlagzeilen eingearbeitet, wie der Schusswechsel eines Gangsters gegen die Polizei, der im Film fließend übergeht in einen Kampf gegen stahlhelmtragende Soldaten. Auch dies dürfte in den frühen 20er-Jahren in den deutschen Städten kein seltener Anblick gewesen sein, bindet also das aktuelle Tagesgeschehen in den Film ein.
Doch auf der anderen Seite wäre es zu kurz gegriffen, Mabuse mit Hitler zu vergleichen der 1921, als DR. MABUSE gedreht wurde, seinen Aufstieg gerade erst begonnen hatte, und dessen folgenreiche Karriere zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abzusehen war. DR. MABUSE zeigt, nach Aussage von Fritz Lang, den verbrecherischen Anti-Staat, der sich nicht um seine Bürger kümmert, sondern dessen einzige Existenzberechtigung darin liegt, dass er existiert. Mabuse hat einen Staat im Staat etabliert, der seine eigenen Anhänger hat, seine eigenen Gesetze, seine eigenen Ziele. Und der sich um die Ziele des „regulären“ Staates einen Scheißdreck schert. Mögen die anderen doch verrecken, Hauptsache mir geht es gut. Kommt das bekannt vor? In den Jahren nach dem Ende des ersten Weltkrieges, mit der von vielen abgelehnten Weimarer Republik und der ständigen Bedrohung durch einen Putsch ist dies eine genauso aktuelle Bestandsaufnahme wie heute, in der Zeit von Identitären und Reichsbürgern, die ebenfalls den „regulären“ Staat ablehnen und sich ihre eigenen Gesetze stricken …

Erst 10 Jahre später, in der Fortsetzung DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, wird Lang direkt Bezug nehmen auf den starken Staat, auf Adolf Hitler, und auf den existierenden Staatsterrorismus. Aber bis dahin werden noch ein paar Jahre der Gewalt und der Armut, des Chaos und der Verzweiflung ins Land gehen, und die Umstände werden dafür sorgen, dass immer mehr Menschen nach einem starken Mann an der Spitze rufen. Nach jemandem, dessen verbrecherisches Wesen ignoriert wird, solange er nur stark ist und ein Heil verspricht, dass dann wider Erwarten in sein Gegenteil verkehrt wird. „Doch der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann …“ heißt es in DIE BLECHTROMMEL in einer gänsehauterzeugenden Szene, und die Verbindung zu DR. MABUSE ist vielleicht doch nicht so weit weg wie gedacht, ist doch der Dr. Mabuse dieser ersten Verfilmung der Mann mit den 1000 Masken, dessen Verkleidungskünste phänomenal sind, und der in seinen Verkleidungen tatsächlich kaum zu erkennen ist.

Wie könnte man dem Satan auch entgegentreten, wenn man ihn denn gar nicht erkennt, sondern meint, dass man einen Vertrauten vor sich hat. Dr. Mabuse als Hugo Balling, der Industrielle und Mann von Welt, der so unverschämtes Glück hat beim Spiel. Dr. Mabuse als Schnürsenkelverkäufer, der in den Gassen der Armen als Wohltäter (weil Spender kriminellen Geldes) gerne gesehen ist. Und Dr. Mabuse als Sandor Weltmann, der Meister der Massenhypnose, der dem begeisterten Publikum vorgaukeln kann, dass Beduinenvölker und Kamele durch die Halle laufen, und so die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Geschehen, nämlich der physischen Vernichtung des Staatsanwaltes Wenk, perfekt ablenkt. Der den Menschen Brot und Spiele schenkt, während er in Wirklichkeit Angst verbreitet und alles und jeden korrumpiert. Kommt das bekannt vor …?

(1)    Friedemann Beyer, Booklet zur Fritz Lang Collection, erschienen bei der Transit Film 2007

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