Onkel Charlie kommt zurück. Onkel Charlie besucht die Familie, und lockert den stupiden Alltag auf. Onkel Charlie bringt teure Geschenke mit und bietet allen Familienmitgliedern einen neuen Flucht- und Ankerpunkt. Hauptsächlich der jungen Charlie, seiner Nichte, die sich in spätpubertären Freiheitsphantasien aus der kleinen Stadt wegdenkt und versucht, im eigenen Kopf die Probleme der Menschheit zu lösen. Charlie und Charlie, das ist mehr als nur Onkel und Nichte, das ist ein bisschen wie Telepathie. Aber nur ein bisschen, denn der Zuschauer weiß etwas, was das Mädchen nicht weiß: Onkel Charlie ist auf der Flucht vor der Polizei.
Hitchcock hat mal sinngemäß gemeint, dass es nicht spannend sei wenn die Helden an einem Tisch sitzen unter dem eine Bombe explodiert, sondern dass Spannung erzeugt wird wenn der Zuschauer weiß, dass unter dem Tisch eine Bombe installiert sei, er aber nicht wisse wann diese hochgehe. IM SCHATTEN DES ZWEIFELS ist das beste Beispiel für diese These. Denn der Zuschauer weiß, dass Charlie etwas auf dem Kerbholz hat (wenngleich er erst relativ spät durchschaut, was denn nun eigentlich der Grund für die Menschenjagd ist), aber er weiß auch dass die Familie dies nicht weiß, und aus dieser Konstellation heraus zieht Hitch eine enorme Spannung.
Schon wenn Onkel Charlie am Bahnhof der kleinen Stadt ankommt legt sich eine große dunkle Wolke über das Bild. Der Teufel hält Einzug in Santa Rosa, so scheint es, und die Wirkung dieser Szene ist erst einmal unglaublich. Wir beobachten genau, wie der schwarze Mann Hof hält, wie er sein Netz auswirft, wie er versucht sich vor der schnell auftauchenden Polizei zurückzuziehen – Wie eine Spinne, die gleichzeitig einen größeren Feind und einen leckeren Happen (nämlich Nichte Charlie) im Netz hat, genauso agiert Onkel Charlie. Seine Blicke werden zunehmend manischer, sein Verhalten macht Angst, und ich meine so richtig ANGST, und als auf das junge Mädchen eine Reihe Mordanschläge verübt werden, und die Kavallerie in Gestalt ihres Verehrers vom FBI nicht erreichbar ist, da stockt dem Zuschauer selbst 80 Jahre nach dem Entstehen des Films noch die Atmung.
Spannung ist, wenn der Zuschauer weiß dass eine Bombe versteckt ist, er aber nicht weiß wann sie explodiert. Onkel Charlie ist diese wandelnde Bombe, die mitten in dieses Heile-Welt-Idyll platziert wurde. Die Welt ist hier so lieblich, dass ich mir sicher bin, dass sich David Lynch für einige Bilder in BLUE VELVET hat inspirieren lassen. Ein fast unerträglicher Kitsch zwischen hübschen Häuschen und adretten Menschen, und dazwischen ER. Der Herr des Bösen, frisch importiert aus der finsteren Großstadt, der seinem Schwager, einem braven Bankkassierer, in der Schalterhalle laut erklärt, dass dieser doch wohl wüsste wie man ein paar Scheine abzwackt. Und später, nach dem Gespräch mit dem Direktor und noch in dessen Hörweite, seinem neuen Buddy lauthals wünscht dass er bald den Posten des Direktors bekäme.
Ein explosives Gemisch dass da zusammenkommt: Der knüppelharte und perfekt schauspielernde Onkel, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, reichen Witwen den Liebenden vorzuspielen, also jede Menge Erfahrung darin hat so zu tun als ob, und die spätpubertäre und naseweise Nichte, die von dem mondänen und reichen Mann einerseits fasziniert ist, andererseits aber auch spürt dass da etwas ist. Etwas, was man besser nicht aufscheuchen sollte. Aber die Neugier, diese verfluchte Neugier …
IM SCHATTEN DES ZWEIFELS ist ein böser und düsterer Thriller, der in vielen Szenen auf der gerade entstehenden Noir-Welle mitschwimmt, und mit dem Gespür Hitchcocks aus diesen Begriffen Noir und Thriller das Optimum herausholt. Der Film ist weitaus besser als alles was Hitch in den 40ern sonst so gedreht hat (ja, sogar besser als ICH KÄMPFE UM DICH) und hält locker das Niveau seiner Klassiker aus den 50ern. Meines Erachtens ist es dringend an der Zeit, dieses Meisterwerk 80 Jahre nach dem Entstehen des Films wiederzuentdecken!