Welcome to Dystopia
Die Menschheit steht vor dem Aussterben. Aus unerklärlichen Gründen können keine Kinder mehr gezeugt werden. Weltweites Chaos, Anarchie, Terrorismus, Not und Elend sind die Folge. Weltweit? Nicht ganz. In Großbritannien sorgt ein opressives Militärregime mit eiserner Faust für öffentlichen Gehorsam. Regimegegner, Einwanderer, Menschen anderer Hautfarben werden sicherheitshalber in Konzentrationslager deportiert, der Rest der Bevölkerung wird kontrolliert. Die allgemeine Stimmung als depressiv zu bezeichnen wäre ein Euphemismus -- stirbt die menschliche Rasse doch in spätestens 60 Jahren komplett aus. Mittendrin schließt sich Clive Owen einer Gruppe Wiederständler an, die ein Ass im Ärmel, eine Fleisch gewordene Hoffnung für das Überleben der Menschheit haben...
Alfonso Cuaron rockt -- wieder mal. Stilsicher inszeniert er hier eine beklemmende Dystopie, die den Zuschauer mühelos in ihren Bann ziehen sollte, da sich die grandiose Optik (intensive, prägnante Bilder teils mit nerven-zerrend langen Einstellungen gefilmt) sowie Cuarons phantastisches Gespür für Schauspielführung und richtiges Timing der Erzählung unterordnen, wodurch eine sinnvolle Verschmelzung von Form und Inhalt und daher eine fast schon schmerzlich spürbare Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit entsteht. Ein Film wie aus einem Guss; eine intensive, beklemmende Seherfahrung, die den Zuschauer wie ein Strudel mitreißt und unterwegs zu keiner Zeit wieder ausspuckt, weil der Film doch sehr fließend wirkt, weil Cuaron sich unterwegs keinen Lapsus leistet, nirgendwo anhakt, sich nirgends verfängt. Bei "The Children of Men" sitzt man eigentlich durchgehend mit großen Augen vor der Leinwand und kann sich der Atmosphäre, die einen immer tiefer reinzieht, nicht erwehren. Erst am Ende leistet sich Cuaron einen Fehler in Form einer comichaft albernen Szene, in der Soldaten sich bekreuzigend auf die Knie fallen angesichts des neugeborenen Hoffnungsträgers (warum jemand mit Cuarons Potenzial so eine Pathos-Maschinerie auffahren muss, verstehe ich nicht -- was mich zu der Frage bringt, ob dies vielleicht gewollt ist und einen Zweck erfüllt -- werde über diese Frage meditieren).
Auf inhaltlicher Ebene ist "The Children of Men" gleich in zweifacher Hinsicht geschickt, da er sich zweier in ihrer Simplizität nahezu genialer Tricks bedient:
Erstmal ist die Handlung (und somit diese futuristische Welt) nicht sehr detailliert: Erklärungen werden ausgespart, Dinge werden als gegeben behandelt, mit Präzision wird gegeizt. Bei Licht betrachtet ist der Plot nahezu einfach gestrickt. Dies bewahrt den Film davor, sich in Inkohärenz, Storylöchern und sonstigen Ungereimtheiten zu verfangen. Außerdem regt dies den Zuschauer zum Mitdenken an, versetzt ihn eine Welt, die ihm nicht haargenau erklärt wird, weshalb er sie sich eigenständig erschließen muss. Und in letzter Konsequent lässt dies den Film bedrohlicher und beklemmender wirken, weil man als Zuschauer da ohne großartige Einführung und ohne viel Circumstance einfach in eine lebensfeindliche Welt geschmissen wird. Das gefiel mir gut.
Dann weist die filmische Handlung in dieser futuristischen Welt meines Erachtens starke Paralellen zu unserer heutigen Zeit, unseren gesellschaftlichen und politischen Problemen (rückläufige Geburtenraten, größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, Extremismus, staatliche Kontrolle, Fremdenhass/Ressentiments gegenüber Menschen anderer ethnischer Herkunft, etc.) auf, wodurch “The Children of Men” als Spiegelbild unserer Gesellschaft funktioniert beziehungsweise, für eine Dystopie nicht untypisch, unsere heutigen Probleme weiterdenkt/weiterspinnt. Dadurch gewinnt der Film in meinen Augen einerseits automatisch an Relevanz und bietet dem Zuschauer andererseits Anhaltspunkte, diese ihm fremde Welt zu begreifen und einzuordnen (ganz so, als seien Wegweiser in dieser wie schon erwähnt nicht großartig erklärten und nicht sonderlich detaillierten Handlung aufgestellt).
Manche mögen “The Children of Men” als Mogelpackung bezeichnen, weil dieses Werk eben eine Handlung präsentiert, welche sich selbst nicht großartig hinterfragt, gewisse Abläufe nicht erklärt und die ihre Substanz primär aus den (mal mehr, mal weniger plakativ) eingestreuten Anspielungen auf uns bekannte Probleme/Missstände zieht. Diese Meinung respektiere und verstehe ich, kann aber nur nochmals betonen, dass es in meinen Augen (aus den oben genannten Gründen) eine der Stärken des Films ist, dass der Plot so ist wie er ist.
Positiv zu vermerken ist sicherlich Cuarons Fähigkeit, Sachverhalte ganz ohne Worte in simplen Bildern zu erzählen (eine Eigenschaft, die mir schon bei THE PRISONER OF AZKABAN aufgefallen ist). Nehmen wir als ein Beispiel von vielen die Szene, in der Clive Owen das erste Mal Michael Caine in dessen Waldhütte aufsucht: Beiläufig wird mit einem Kameraschwank über Zeitungsartikel an der Wand erklärt, welcher Profession die Ehefrau früher nachgegangen ist und aus welchen Gründen sie nun im Rollstuhl sitzt. Diese Form der nonverbalen Informationsvermittlung mag für Einige nicht weiter erwähnenswert sein, aber mir fielen spontan drei Regisseure ein, die einen aufgesetzten Dialog zwischen Caine und Owen inszenieren würden, dessen einziger Zweck darin bestünde, dem Zuschauer die Vergangenheit des Ehepaares und somit Caines momentane Sicht der Welt zu erklären (was bei diesen beiden sich gut kennenden und freundschaftlich seit Jahren miteinander verbundenen Männern unglaubwürdig wirkte, dass sie plötzlich so einen Dialog führen). Cuarons nonverbale Informationsvermittlung ist gerade in ihrer Simplizität, ihrer Unscheinbarkeit, ihrer beiläufigen/unangestrengten/wie selbstverständlich wirkenden Ausführung so brillant. Und das macht einen guten Regisseur aus. Und Cuaron ist ein guter Regisseur, der neben einem phantastischen Blick für gut funktionierende, ausdrucksstarke Kinobilder vor allem eine große künstlerische Versatilität besitzt: “The Children of Men” ist in seinem Grundton so anders als “The Prisoner of Azkaban”, und doch können beide Werke überzeugen, und doch tragen beide Werke Cuarons Handschrift. Der Mann ist auf bestem Wege, ein ansehnliches Oeuvre aufzubauen. Gespannt darf man daher sein, was er uns in Zukunft bescheren wird. Meines Erachtens ein Regisseur, dessen künftiges Schaffen zu verfolgen sicherlich bereichernd ist.
Zum Abschluss meiner bescheidenen Filmbesprechung möchte ich noch die phantastische Szene mit dem Überfall auf das Auto im Wald erwähnen: Aus dem Fahrzeuginneren gefilmt entfaltet diese Sequenz eine erschreckende Wirkung. Die Angst, Überraschung, Panik der Autoinsassen ist zum Greifen nahe. Sehr stark. Aber diese tolle Szene ist nichts im Vergleich zu dem, was Cuaron später in der zweiten Filmhälfte im Flüchtlingsghetto zeigt... Daher: Ins Kino gehen und ansehen! Es lohnt sich wirklich.
Fazit:
Auch wenn man sich darüber streiten kann, ob der Plot in seiner Ausarbeitung stellenweise vielleicht besser sein könnte (was ich persönlich aber nicht so sehe), kann man “The Children of Men” eine gewisse Brisanz und Relevanz nicht absprechen. Vor allem jedoch ist Alfonso Cuaron ein atmosphärisch fesselndes, visuell wie akustisch starkes Werk gelungen, das eine beklemmend-absorbierende Wirkung ausübt und den Zuschauer leicht in seinen Bann ziehen sollte. Meines Erachtens eines der intensivsten Filmerlebnisse des Jahrgangs 2006.