Die Fabelhafte Welt der Amélie (2001)

«Les temps sont durs pour les rêveurs.»

Diese traurige Tatsache scheint der Grund für Jean-Pierre Jeunets grandiosen Film gewesen zu sein, denn «Le fabuleux destin d'Amélie Poulain» ist ein wundervolles Werk für die Träumer unter uns. Die titelgebende Amélie Poulain lebt abgeschieden von der Gesellschaft, vollkommen eingenommen von ihren Fantasien und Träumereien. Bis sie beschliesst, ihren Mitmenschen als unsichtbarer Schutzengel zur Seite zu stehen. Die schüchterne Frau aus Paris beginnt, allen ihren Bekannten ein Stückchen Glück auf den Weg zu geben. Einzig und allein ihr selbst scheint sie nicht helfen zu können, denn sie fürchtet die Nähe des Mannes ihrer Träume.

«Das Leben ist so schön!»

Ich kann den deutschen Übersetzern gar nicht richtig böse sein – Auch die «Welt» von Amélie ist wahrhaftig fabelhaft! Der fantasievolle und eigenwillige Stil des Film nimmt den Zuschauer sofort in sich gefangen. Hier bietet uns Jeunet einiges an Bizarrem und Ungewöhnlichem. Das liegt vor allem an der absolut fantastischen Kameraführung, die nicht nur einige wenige Leckerbissen zu bieten hat, sondern den ganzen Film hindurch auf einem unheimlich hohen Niveau bleibt. Die Farben erscheinen in kräftigen und kontrastreichen Tönen, ohne dass es deplatziert oder übertrieben wirkt. Der visuellen Macht der Inszenierung kann man sich nur mit Mühe entziehen. Die Akustik steht dem in nichts nach. Normalerweise subtile Geräusche erschallen in einer Intensität, die immer wieder aufs Neue überrascht. Jeunet schafft es meisterhaft, das Banale mysteriös und fantastisch erscheinen zu lassen. «Le fabuleux destin d'Amélie Poulain» baut eine beinahe schon intime Beziehung zum Publikum auf.

An dieser Stelle sei zudem die Filmmusik von Yann Tiersen erwähnt – etwas Schöneres habe ich nur selten gehört. Die Kompositionen des Franzosen könnten die dichte Stimmung des Films nicht besser untermalen. Vor allem das Pianostück «Comptine d'un autre été» geht direkt unter die Haut und kann ohne Zweifel bereits jetzt als Klassiker der Filmmusik bezeichnet werden.

«Ohne dich wären die Gefühle von heute nur die leere Hülle der Gefühle von damals»

Der Handlung des Filmes scheint es auf den ersten Blick an Action und Bewegung zu fehlen, diese findet man aber oft im Kleinen und Unerwarteten wieder. Zudem hält das Drehbuch unzählige liebevolle und überraschende Ideen bereit, die das Publikum mühelos bei Laune halten kann. An keiner Stelle wirkt der Streifen klischeehaft oder aufgesetzt. Amélie vollbringt keine grossen Taten, wie man sie von klassischen Filmhelden erwartet – sie spendet Trost auf eine sehr ehrliche Art. Auf diese Weise zeigt sie sehr schön, dass man mit scheinbar bedeutungslosen Gesten grosse Wunder vollbringen kann.

«Wenn ein Finger zum Himmel zeigt, schaut nur der Dumme auf den Finger.»

Immer wieder schafft es Jeunet, wunderbar skurrile Charaktere aus dem Ärmel zu ziehen. Alle haben sie eine liebenswürdige Macke, was aus ihnen aber nie Witzfiguren macht, da ihre Probleme und Neurosen nach wie vor menschlich bleiben. Wir können ihre Fragezeichen, ihre Sehnsüchte immer nachvollziehen. Die Riege der Schauspieler ist im Übrigen mehr als gelungen. Vor allem Audrey Tautou in ihrer Rolle als Amélie gebührt meine uneingeschränkte Bewunderung – ihre Darstellung der naiven, weltfremden Frau ist inspirierend.

«Wie viele Menschen haben wohl gerade einen Orgasmus?»

«Le fabuleux destin d'Amélie Poulain» ist nicht nur poetisch, sondern auf eine seltsame Art komisch. Der Humor des Filmes liegt vor allem in seinem infantilen und schon fast skandalös direkten Umgang mit der Sexualität. Auch die Bemerkungen des Erzählers auf der Metabene des Filmes dürften für einige Schmunzler sorgen. Der Film ist weder Tragödie noch Komödie, doch auf eine ganz eigene Art sorgt er für gute Laune und Melancholie. Jeunet vereint Realität und Träumerei und zu einem grossen Ganzen, zu einem Werk in Perfektion.

Schlussendlich ist das französische Meisterwerk eine Liebeserklärung an das Leben – intensiv, subtil, tragisch, komisch, fantastisch, real und... ach, einfach nur geil!

10/10