Review

Vom Leiden im Blumenmeer
MEMORIES OF MATSUKO von Tetsuya Nakashima
Japan 2006

Vorsicht, die folgende Kritik enthält Inhaltsangaben, die man als SPOILER interpretieren könnte!

Eins sei vornweg gesagt: Memories of Matsuko ist ein beeindruckender Film, ganz ohne Zweifel, und für jeden Freund des fernöstlichen Kinos sollte er zum Pflichtprogramm gehören. Mit seiner konsequent an den Maßgaben einer entfesselten Popkultur orientierten Inszenierung stellt er sicherlich den Kulminationspunkt einer wichtigen Tendenz gerade des japanischen Filmschaffens dar.
Aber wenn man nach diesem optischen & akustischen Frontalangriff das Gehirn wieder auf Normalbetrieb gebracht hat, kann man feststellen, dass einige der an Hysterie grenzenden Rezensionen, die man allerorten antrifft, vielleicht doch ein wenig über das Ziel hinausschießen.

Der Ausgangspunkt ist klar: Tetsuya Nakashima wollte etwas ganz Großes machen. Das steht unumstößlich fest, allein die Aussagen der Schauspieler im Making of über die Verbissenheit des Regisseurs bei seiner Arbeit (obwohl dieser in Interviews immer bemüht albern lacht) fegen in diesem Punkt jeden Zweifel hinweg. Nachdem sein Vorgängerwerk Kamikaze Girls eine große Zahl wohlwollender bis euphorischer Kritiken geerntet hatte, wollte er den damit eingeschlagenen stilistischen Weg nun zur Vollendung führen und mit einer komplexen und emotional berührenden Handlung verbinden. An diesem Anspruch muss sich der Film messen lassen.
(Nebenbei bemerkt ist auch Kamikaze Girls vielerorts maßlos überschätzt worden. Spätestens wenn man nicht bereit ist, Kyoko Fukada, deren Mitwirkung schon Takeshi Kitanos ansonsten wundervollen Dolls fast ruiniert hat, niedlich zu finden und sich von Äußerlichkeiten über eine erschreckende inhaltliche Substanzlosigkeit hinwegtäuschen zu lassen, stürzt das ganze Projekt zusammen wie ein Kartenhaus.)

Auf den ersten Blick funktioniert Nakashimas ehrgeiziges Konzept hervorragend. Mit goßem Einfallsreichtum und äußerst akribischer und liebevoller Ausstattung wird eine visuelle Ebene erreicht, die selbst im für kunterbunte Filme bekannten Japan (Cutie Honey, Survive Style 5+ etc.) ihresgleichen sucht. Die abwechslungsreiche Musikuntermalung und -begleitung korrespondiert perfekt mit der Handlung. Auch die handwerkliche Verknüpfung der grellbunten Bilderwelt mit den Elementen des Dramas kann jederzeit überzeugen, nicht zuletzt dank eines wirklich sensationellen Schnitts. Insgesamt darf man also einen Film bewundern, den man so bestimmt noch nicht gesehen hat und dem man eins ganz sicher nicht vorwerfen kann: dass er irgendwann in seinen immerhin 130 Minuten auch nur ansatzweise langweilig wird.
Bei der Vielfalt der eingesetzten Mittel besteht natürlich die Gefahr, dass das eine oder andere davon nicht unmittelbar den Geschmack des Zuschauers trifft. Das gilt besonders für die Musik, die so heterogen ist, dass sie sicher nicht jedem ausnahmslos gefallen und manchmal sogar gewaltig nerven kann. Auch im optischen Bereich werden vermutlich hin und wieder einige Grenzen überschritten. Wirklich bemerkenswert ist der Einsatz von Blumen aller Art, der solch inflationäre Ausmaße erreicht, dass er irgendwann Gefahr läuft, ins Lächerliche abzugleiten. Aber das sind Faktoren, die vorwiegend dem subjektiven Ermessen des Betrachters unterliegen und noch nichts Wesentliches über die Qualität des Films aussagen. Den wahren Problemen nähert man sich, wenn man einmal all das schmückende Beiwerk beiseitelässt und das Drama, die eigentliche Geschichte von Matsuko, um die herum alles aufgebaut wurde, ganz isoliert betrachtet und einer kritischen Analyse unterzieht.

Schon unsere erste Begegnung mit Matsuko hat es in sich. Sie arbeitet als Lehrerin und einer ihrer Schüler hat Geld gestohlen. Was tut sie? Natürlich das Nächstliegende – sie nimmt die Schuld auf sich, ersetzt das Geld und bestiehlt dafür sogar, da sie nicht genug hat, ihre Zimmerkollegin. Wir wissen also gleich von Anfang an, dass wir es hier mit einer Art Super-Amélie zu tun haben, die für alle nur das Beste will, außer für sich. Das Ganze fliegt auf, der Schüler legt sie in der entscheidenden Aussprache ziemlich hinterhältig aufs Kreuz, sie verliert ihren Job und das Unglück nimmt seinen Lauf. Und damit auch eine Handlung, die sich weitgehend immer wieder der gleichen Stereotypen bedient: Matsuko gut, Schicksal schlecht. Und damit das auch der Letzte begreift, geht es bei der Umsetzung dieses Leitgedankens ziemlich schlicht zu. Matsukos Freund, ein heruntergekommener Schriftsteller, schlägt und tritt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Selbst als sie unter großer Überwindung aus dem Kreis ihrer Familie (in der sie auch unter Verachtung und Ignoranz leiden muss) Geld beschafft, gibt es Schläge und den guten Ratschlag: „Du blöde Kuh, wie wär’s, wenn du im Bordell arbeitest?“ Selbstverständlich hat unsere Heldin nichts Eiligeres zu tun, als sich beim nächsten Zuhälter zu melden. Später wird Matsuko übrigens sagen, dass dieser Freund der Einzige war, der sie wirklich geliebt hat. Das ist nun wirklich eine gar seltsame Interpretation dessen, was man hier zu sehen bekam – unter Liebe stellt man sich eigentlich etwas anderes vor, zumindest in unserem Kulturkreis.
Auch die nächste Beziehung beendet Matsuko gedemütigt und ziemlich grob auf den Fußboden geworfen. Der folgende Freund, ein Zuhälter, fühlt sich sehr bald von ihrem durch die Prostitution gezeichneten Gesicht abgestoßen – und wieder findet sie sich auf dem Boden wieder. Dieses Mal sticht sie unter akuter Bedrohung und im Affekt endlich einmal zu und befördert den Fiesling schön blutig ins Jenseits.
Bevor sie nun von der Polizei gestellt wird, lernt sie einen gutmütigen Friseur kennen und wir dürfen ein paar friedliche Minuten mit den beiden erleben, in denen sich eine Beziehung anbahnt, die ohne einseitige Gewalt auszukommen scheint.
Als sie nach acht Jahren Gefängnis zu diesem Mann zurückkehrt, muss sie feststellen, dass der inzwischen verheiratet ist und ein Kind hat. An dieser Stelle ist sich der Film selbst ein Beispiel dafür, dass es auch etwas subtiler geht und nicht immer Tritte und Schläge nötig sind, um das Elend der Protagonistin darzustellen.
Aber als könne sich das Skript diese etwas weniger dramatischen Ausdrucksformen nicht verzeihen, geht es daraufhin wieder richtig zur Sache. Matsuko verliebt sich in Ryu, den ehemaligen Schüler (!), der einst das Geld gestohlen und die Lawine ihres traurigen Schicksals erst ins Rollen gebracht hatte und nun stolzes Mitglied der Yakuza ist. Er gesteht ihr ohne langes Zögern, dass er sie damals geliebt hat – wirklich sonderbar ist sie, die Liebe in Japan ... Wie dem auch sei, von Liebe ist bald nicht mehr viel zu spüren (oder ich fehlinterpretiere sie in meiner westlich-kulturellen Einfalt) und es setzt wieder reichlich Schläge. Der herzensguten Matsuko macht das indessen nichts (oder zumindest nicht genug) aus und sie steht fest und einem ehrlichen Hilfsangebot ihrer einzigen Freundin zum Trotz an der Seite ihres „Geliebten“. Als dieser aufgrund seiner beruflichen Aktivitäten im Gefängnis landet, meint Matsuko, dass es nichts Besseres und Wichtigeres auf der Welt gibt, als in Demut auf ihn zu warten und ihn nach abgebüßter Haft mit einem Strauß Rosen liebevoll am Gefängnistor zu begrüßen. Tja ... und zum Dank dafür landet seine Faust mit wahrer Urgewalt mitten in ihrem Gesicht. Ryu hat sich nämlich in der Abgeschiedenheit seiner Zelle allerlei tiefgründige Gedanken gemacht und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass es das Beste sei, wenn er sie verlässt und vergisst und ihr somit kein Leid mehr zufügen kann. Diesen edlen Entschluss setzt er also umgehend mit einem kernigen rechten Haken in die Tat um ...
Ganz ehrlich – auch wenn man sich inzwischen an die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufenden Handlungselemente gewöhnt hat und das meiste auf erstaunlich große Entfernung vorauszusehen vermag, die oberflächliche Theatralik dieser Szene ist wirklich erschreckend und sorgt für den Tiefpunkt des bisherigen Geschehens.

Das genügt, um eine Zwischenbilanz zu ziehen: Irgendwie wirken die Mittel, mit denen man uns Matsukos Schicksal nahebringen will, ähm ... etwas primitiv. Man kommt sich ein wenig wie ein Idiot vor, dem man alles besonders eindringlich und gleichzeitig leicht verständlich erklären muss. Dabei scheint es nicht auszureichen, den gesamten Inhalt gnadenlos auf Gut und Böse zu beschränken, diese Gegenpole werden auch immer noch besonders exemplarisch zelebriert. Ein ähnliches Niveau zeichnet auch die Dialoge und Off-Kommentare aus. Wenn Billigsätzen aus der Gefühlsramschkiste wie „Entschuldigung, dass ich geboren bin“ hier eine zentrale Rolle eingeräumt wird, dann ist das nicht gerade eine intellektuelle Herausforderung. Aber vielleicht will man den Zuschauer auch nicht unnötig von schönen Bildern und extravaganter Musik ablenken.

Richtig unangenehm wird es allerdings, wenn das Ganze gegen Ende mehr oder weniger in westlich-religiöser Verklärung versinkt und schmerzliche Erinnerungen an Lars von Triers unsäglichen Vatikan-Werbestreifen Breaking the Waves wachruft. „Mit Gottes Hilfe denen verzeihen, die keine Vergebung verdient haben, das ist Gottes Liebe“ – diese Philosophie stößt zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ziemlich sauer auf. Neben einer gewissen weltanschaulichen Armut steckt hier auch reaktionäres Potenzial. Ja, so hätte man es gern, Menschen, die sich alles gefallen lassen und dabei keinen Gedanken an Gegenwehr verschwenden. Lauter Matsukos, die man grün und blau schlagen kann und die sich kurz darauf treudumm lächelnd mit einem Blumenstrauß dafür bedanken. Dafür dürfen sie sich dann auch, wenn schon nicht als Göttin (wie das Arschloch Ryu nach seiner biblischen Erleuchtung zu erkennen glaubte), so doch wenigstens als eine Art Engel feiern lassen. Und diese Tendenz ist nicht etwa ein Ausrutscher oder eine unbedeutende Fußnote der Handlung, nein, letztendlich steuert der Film zielstrebig auf genau diese Aussage hin und macht sie zu einem zentralen Anliegen. In diesem Kontext muss auch die wirklich peinlich kitschige Szene verstanden werden, in der Matsuko ganz am Ende auf einer schmalen Treppe in den Himmel steigt (interessant: Zu Beginn der Einstellung sieht man nur Matsuko auf der Treppe und wundert sich schon über die fehlenden Blumen, aber dann schwenkt die Kamera nach unten – und da sind sie, zahllos und bunter denn je). Das ist kein inszenatorischer Übermut und keine ironische Brechung, sondern ein haargenau im Hinblick auf die erwähnte Aussage konzipiertes Bild, das inhaltlich mit dem der Treppe in Matsukos Elternhaus verflochten wird. Oder anders gesagt: Das ist ganz ernst gemeint. Und hier tut’s dann wirklich weh.

Wenn man das Drama also isoliert betrachtet, hat man nichts als Matsukos ganz persönlichen Leidensweg vor sich, der sich zu allem Überfluss auch noch mehrmals im Kreis dreht, bevor er völlig unreflektiert zum eigentlich traurigen, aber letzten Endes nur haarscharf am Religionskitsch vorbeischrammenden Ende führt. Nichts gegen Geschichten, in denen wir die Protagonisten auf einem schmerzvollen Weg in Richtung Abgrund begleiten müssen – dafür gibt es ganz außergewöhnliche Beispiele. Ich denke hierbei spontan an wirklich niederschmetternde und großartige Filme wie Sympathy for Mr. Vengeance von Park Chan-wook oder Lilja 4-ever von Lukas Moodysson. Aber in diesen Fällen wurde nicht versäumt, die Geschehnisse ganz bewusst in einen kritischen Kontext einzubetten und ihre Ursachen letztlich in den beängstigenden sozialen Verwerfungen innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft zu suchen und zu finden. Von solchen Überlegungen ist Memories of Matsuko so weit entfernt wie wir vom nächsten bewohnten Planeten.

Noch ein Wort zu Miki Nakatani: Natürlich spielt sie die Matsuko gut, aber nüchtern und aus genügender Distanz betrachtet, tut sie nichts, was eine andere halbwegs begabte Schauspielerin nicht auch gekonnt hätte. Eine herausragende und „facettenreiche“ (wie man öfter zu lesen bekommt) Leistung ist hier eigentlich kaum erkennbar, und das liegt viel weniger an Miki Nakatani als am Drehbuch: Wie viele Facetten sind hier eigentlich darzustellen? Außer sich auf der einen Seite permanent demütigen und die Augen blau schlagen zu lassen und auf der anderen mit Amélie-Gedächtnisgrinsen durch die bonbonbunten Kulissen zu wandeln, bleibt nicht mehr viel zu tun. Und auch ständig wechselnde Frisuren sind noch lange keine Facetten. Für wirklich differenziertes Spiel bleibt bei der ausgeprägten und vordergründigen Fixierung auf optische Aspekte nur wenig Raum. Eine erfreuliche Ausnahme bilden in dieser Beziehung einige Szenen mit Matsukos Freundin Megumi (sehr charismatisch von Asuka Kurosawa verkörpert), in denen sich der Film für kurze Zeit ein wenig zurücknimmt – was ihm unglaublich guttut. In diesen Augenblicken spürt man sofort und überdeutlich, wie das Werk an Tiefe gewinnt, und das an sich ist ein Alarmsignal: Wenn etwas so leicht und so schnell an Tiefe zu gewinnen in der Lage ist, dann kann der Ausgangswert nicht allzu hoch sein ...

Oftmals wird Memories of Matsuko mit Survive Style 5+ von Gen Sekiguchi verglichen. Aber die einzigen wirklichen Parallelen beschränken sich auf eine Reihe formaler Aspekte. Sekiguchis Werk fußt auf einem völlig anderen Konzept, stellt mit aller Konsequenz das Absurde in den Mittelpunkt und nimmt sich folgerichtig nur sehr bedingt ernst. Genau das ist seine große Stärke und der Grund dafür, dass es viel leichtfüßiger daherkommt als Nakashimas Film, welcher bei jeder Gelegenheit geradezu danach schreit, ausgiebig beklatscht und gewürdigt zu werden. Auch ist bei Sekiguchi die Grellheit in den meisten Fällen unmittelbar durch die Handlung determiniert, während sie in Memories of Matsuko häufig den Charakter einer etwas bemühten Dekoration trägt.

Leider kenne ich die Romanvorlage von Muneki Yamada nicht und kann daher nur schwer einschätzen, wie viel von dieser Kritik eigentlich ihr angerechnet werden muss. Da es sich nach meinen Informationen um ein zweibändiges Werk handelt, würde allein der Umfang die Vermutung nahelegen, dass für den Film einiges vereinfacht wurde. Zu stark vereinfacht möglicherweise. So bleibt am Ende die Frage: Hat Tetsuya Nakashima die unter Umständen vorhandene Komplexität des Werkes einer Reihe von visuellen Spielereien geopfert oder hat er aus einer dürftigen Vorlage mit großem Aufwand noch einen interessanten Film gemacht? Denn das ist Memories of Matsuko. Immerhin.
5 von 10 Punkten.

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