Die Überwachungsbeamtin Jackie (Kate Dickie) fristet ein freudloses Dasein zwischen Job und einsamer Freizeit. Eines Tages entdeckt sie auf einem ihrer Monitore einen jungen Mann, dessen Anblick sie aus der Bahn wirft: Mit Clyde verbindet sie eine tragische Vergangenheit. Sie beginnt ihn zu verfolgen, schleicht sich sogar auf eine Party in seiner Wohnung ein - und steuert unaufhaltsam auf eine schmerzhafte Konfrontation zu.
Die britische Filmemacherin Andrea Arnold liefert mit „Red Road" einen klassischen Beitrag zum British Free Cinema. Mit viel Sorgfalt für Details und größtmögliche Authentizität erzählt sie eine Geschichte aus der schottischen Unterschicht, eingefangen in trist-graue Bilder und vor der Kulisse riesiger Sozialwohnungskomplexe. Dabei entfaltet sich die Geschichte selbst nur langsam und Stück für Stück, begleitet zunächst Jackie in ihrem eintönigen Alltag, bei dem selbst die Affäre mit einem verheirateten Mann lieblos und mehr wie eine Notwendigkeit wirkt, und zeigt auch ihr entfremdetes Verhältnis zu ihrer Familie. Vor allem in den spärlichen Dialogen zwischen ihr, ihrem Schwiegervater und ihrer Schwägerin wird dabei gekonnt die traurige Vergangenheit angedeutet, die sie alle zu verbinden scheint.
Auch wenn sich erfahrene Zuschauer sicher relativ schnell ungefähr vorstellen können, worin diese Vergangenheit bestehen mag, schafft es der Film doch sehr lange, die konkreten Details und vor allem Jackies eigentliches Ziel bei ihrer seltsamen Annäherung an Clyde zu verbergen. Ihr Ausbruch aus dem Alltagstrott, ihre zielstrebigen Bemühungen, Clyde näher zu kommen, wirken oft so, als hätte sie einen Plan, aber in den direkten Konfrontationen mit ihm wirkt sie immer wieder unsicher und ziellos. Besonders die Szenen zwischen ihr und Clyde werden so zu einem spannenden, unterschwellig genderkritischen Duell: Während Clyde als eher primitiver Macho erscheint, der Frauen mit Charme um den Finger wickelt und sie alle für schwach hält, bietet ihm Jackie trotz ihres Schwankens zwischen Unsicherheit und Stärke selbstbewusst die Stirn - dieses fesselnde Duell mündet schließlich in eine sehr eindringlich und intensiv gefilmte Sexszene.
Getragen wird das einerseits von einer durch und durch kontrollierten Kamera, die triste Vorstadt- und Ghettobilder ebenso geschickt einfängt wie Close-ups auf angespannte Gesichter, und die in der zentralen erotischen Szene absolut gekonnt das Gleichgewicht hält zwischen Anschaulichkeit und Voyeurismus. Und andererseits durch die starken Darstellenden, die ihre Rollen mit so viel Intensität und Natürlichkeit geben, dass man ihnen ihre Charaktere vollkommen abnimmt. Ob die traumatisierte Frau, die irgendwie einen Weg aus ihrer Lethargie zu finden versucht, oder der grob wirkende, unter der Oberfläche aber durchaus sensible Unterschicht-Arbeiter - die Figuren hier sind stets so komplex und vielschichtig, dass sie sämtliche Klischees, die man ihnen zuschreiben will, unterwandern.
So ist „Red Road" neben einem eindringlichen Psychogramm einer am Leben verzweifelnden Frau und einem packenden Duell zwischen den Geschlechtern auch ganz nebenbei eine glaubwürdige Studie über soziale Problembezirke. Die heruntergekommenen Straßen, die riesigen Wohnblöcke, die die Landschaft dominieren und in ihrer Eintönigkeit unendlich trist wirken (und in dem mit der Szene am geöffneten Fenster ein Musterbeispiel dafür stattfindet, wie beiläufig hier auch die Eskalationen daherkommen können), und die überzeugend verkörperten Figuren geben dem Viertel so viel Lebendigkeit, dass man mit jeder der Figuren, selbst in den härtesten und gröbsten Szenen, mitfiebert. Hier gibt es keinerlei Schwarz-weiß-Zeichnung, alles ist grau und vielschichtig.
Vielleicht gerät „Red Road" im Mittelteil ein wenig zu langatmig, erzählt er seine Geschichte einen Hauch zu langsam. Und vielleicht sind nicht alle Szenen vollkommen glaubwürdig - wenn etwa Jackie Clyde auf dem Weg in seine Wohnung sieht und erstaunlich schnell von ihrer Arbeit zu seinem Viertel gelangt. Aber solche Kleinigkeiten werden von der intensiven Inszenierung, den in ihrer Ruhe eindringlichen Bildern und den starken Darstellenden problemlos überspielt. Und das tief emotionale Ende, in dem die Konflikte nach einem heftigen Ausbruch sogar einen konstruktiven Weg finden, dürfte noch eine Weile im Gedächtnis bleiben. Das ist British Free Cinema at its best!