Fasching, Versicherungen, bayerische Folklore, Bürokratie, Management-Allmacht usw. usw. - "Kehraus" bietet so viele Hassthemen an, dass man vor lauter Anwiderung schnell vergessen kann, dass uns die Zusammenarbeit von Hanns Christian Müller (Regie, Drehbuch) und Gerhart Polt (Hauptdarsteller) keineswegs nur eine Satire zu den oben genannten Themen anbieten will, sondern hier eine allgemeingültige Sezierung menschlicher Verhaltensweisen stattfindet, mit der wir täglich konfrontiert werden und auch unseren Teil dazu beitragen.
Die Verlegung der Handlung auf den Faschingsdienstag in München und die Kombination mit dem Versicherungskonzern ist geschickt gewählt, weil diese Situationen unsere sozialen Fähigkeiten auf den Prüfstand stellen. So ist der Besuch eines Versicherungsvertreters immer eine Extremsituation, weil hier zwischen völlig Fremden in kurzer Zeit ein Vertrauensverhältnis vorgegaukelt werden muß. Entsprechend kommt es im Zusammenspiel zwischen Verkäufer und Klient auf winzigste Details an, die Sympathie erzeugen oder Mißtrauen sähen.
Die naiv, gutmütige Art des Ferdinand Weitel (Gerhart Polt) kommt dem sprachlich geschickten Vertreter Arno von Mehling (Nikolaus Paryla) entgegen, der bei einem freundlich belanglosen Gespräch sieben Versicherungen abschliesst. Doch das von Weitel zum Schluß angebotene Gläschen Schnaps lehnt er fahrig ab und man hat den Eindruck, dass er sich gedanklich schon woanders befindet. Diese Genauigkeit in der Beobachtung und Schilderung bis ins kleinste Detail macht die Qualität des Films aus, dem eine äußerst komplexe Darstellung der Ursachen des menschlichen Antriebs gelingt.
Mit nur wenigen, geschickt angedeuteten Informationen erfahren wir von den tatsächlichen Problemen jedes Einzelnen, die sie versuchen hinter einer Fassade aus behauptetem Selbstbewußtsein zu verstecken. Gerade dadurch das sich "Kehraus" auf wenige, nicht einmal extreme Hintergründe beschränkt, bleibt der Film so realistisch. Da ist die Sekretärin Annerose Waguscheit (Gisela Schneeberger), ein Mauerblümchen Mitte 30, dass noch bei ihrer Mutter wohnt. Ihre Kollegin, die sich zwar für totschön hält, aber sich längst mit ihrem Mann entzweit hat, der sie vor ihren Augen betrügt. Oder der schüchterne Bürobote, der nach Strich und Faden ausgenutzt wird, und sich zu Hause in faschistoiden Ideen auslebt.
Gerhart Polt, der in dieses Büro-Panoptikum der Verischerungsgesellschaft "Veritas" nur eindringt, weil er seine Versicherungen wieder teilweise stornieren lassen will, ist in seiner Art der offenste Charakter, weil er nichts verbirgt oder vortäuschen will. Vordergründig wirkt er wie ein großer täppischer Trottel, den entsprechend Niemand ernst nimmt, aber mit der Zeit erweist er sich in seiner konsequenten Art als der einzige "Normale" unter lauter "Verrückten". Doch - und darin liegt die Genialität des Films - verliert Polt nie seine leicht naiv, dämliche Art und entwickelt auch keinen besonderen Charme, so das es schwer fällt, sich mit ihm zu identifizieren.
Auch wenn man es nicht gerne zugibt und die Nähe zu sämtlichen anderen Personen von sich weist, so ist doch deren Verhalten - im Gegensatz zu Polts Art - absolute alltägliche Normalität. Jeder ist bestrebt sich von seiner besten Seite zu zeigen, endlich einmal aus seinen beengten bürgerlichen Verhältnissen auszubrechen oder es dem verhassten Partner, Kollegen, Chef usw. zu zeigen und Müller hält einfach drauf. Was uns "Kehraus" zeigt, ist nicht ein karnevalistisches Extrem oder verhaltenstypische Marotten von Versicherungsmitarbeitern, sondern grässliche, ekelhafte Normalität, die hier nur auf den Punkt gebracht worden ist.
Die einzigen Personen neben Polt, die sich nicht in dieser Form selbst erniedrigen, sind die Chefs. Doch "Kehraus" verdeutlicht sehr schön, dass deren Arroganz nur auf ihrer priveligierten Stellung beruht, deren Entstehung man nicht nachvollziehen kann. So kommt die Entscheidung, gleich die gesamte 6.Etage weg zu rationalisieren, nur dadurch zu Stande, dass sich die Vorstandskollegen gegenseitig die Inkompetenz der jeweiligen vorherigen Ideen vor die Nase halten. Doch die Herren schmoren dermaßen in ihrem eigenen Saft, dass sie ihre Methoden z.B. bei der Überwachung der Mitarbeiter, nicht mehr in Frage stellen.
Obwohl sie äußerlich noch die beste Figur abgeben und gesellschaftlich erfolgreich wirken, sind sie hier die lächerlichsten Figuren, denn ihr Verhalten wird nicht mehr durch Alltagsprobleme oder innere Unzufriedenheit beeinflusst, sondern ist quasi Programm. Dieter Hildebrandt ist wunderbar als arroganter Personalchef, der zum Schluß nicht mehr weiß wie ihm geschieht, und dem man selbst einen so kleinen Schritt der Veränderung, wie ihn zum Schluß Annerose Waguscheit noch tut, nicht zutraut.
Doch das versöhnliche Ende kann nicht verbergen, dass uns hier Müller und Polt in intensiven, kurzweiligen und sehr unterhaltenden knapp 90 Minuten ,die nichts von ihrer Aktualität verloren haben, ein erschreckendes Bild der menschlichen Sozialisation vor Augen halten, dass wir alle kennen und uns nur damit trösten, dass wir selbst nicht so schlimm sind (9/10).