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Man stelle sich vor, ein gegenüber seinen Mitschülern stets hinterfragender Teenager der späten Achtziger, genauer des Jahres 1988, zu sein, mit seiner liebevollen Familie ein wundervolles Haus in einer allzu harmonisch scheinenden Gegend zu bewohnen und gelegentlich an psychischen Aussetzern zu leiden, die zumindest einer permanenten psychologischen Betreuung bedürfen. Man stelle sich außerdem vor, eines Nachts von einer sonderbaren Gestalt in einem schaurigen Hasenkostüm aus dem Hause geleitet worden zu sein und von dieser gesagt zu bekommen, dass die Welt in 28 Tagen, 6 Stunden, 42 Minuten und 12 Sekunden ihr Ende finden würde. Schließlich stelle man sich auch vor, dass zur gleichen Zeit eine plötzlich vom Himmel fallende Flugzeugturbine ausgerechnet im trauten Heim, um konkreter zu werden, im eigenen Zimmer, einschlägt und man nicht mehr auf dieser Welt weilen würde, hätte diese mysteriöse, den Weltuntergang prophezeiende Gestalt, namens Frank, einen nicht aus dem Bette geholt.

Man könnte nun die Augen schließen, versuchen, seine Vorstellungskraft bis zum Äußersten auszureizen und doch würde es nicht gelingen, sich ohne Ansicht des Werkes auch nur annähernd die gewaltige Dimension von Richard Kellys Spielfilmdebüt auszumalen. "Donnie Darko" heißt es und ist zugleich fesselndes Drama mit Witz und gesellschaftskritischen Ambitionen, faszinierende Science-Fiction und mit nahezu atemberaubender Akustik bestückter Horror. "Donnie Darko", gleichzeitig der Name jenes eingangs beschriebenen Teenagers, ist etwas in dieser Art und Weise zuvor noch nie Dagewesenes, ein Unikat von geradezu unbegreiflicher Komplexität, ein Film für Wochen, ein transzendentes Erlebnis - tragisch, satirisch und höchst philosophisch.

Dabei attestieren bereits die ersten malerisch fotografierten und - wie später noch so häufig - musikalisch wunderschön untermalten Bilder Richard Kelly zumindest handwerklich überdurchschnittliches Talent, doch lassen sie noch nichts von dem inhaltlich außergewöhnlich ungewöhnlichen Pfad, den Kelly betritt, erahnen: Der Weltuntergang in 28 Tagen, 6 Stunden, 42 Minuten und 12 Sekunden, exakt zu Halloween, und eine Donnie Darko im sonderbaren Hasenkostüm immer wieder erscheinende Figur namens Frank - all dies nur ein besonders hartnäckiges Produkt der Fantasie Donnies; völlig harmlos oder mehr als nur pubertär bedingte Schizophrenie? Das Schöne an "Donnie Darko" ist seine mehrdimensionale Interpretierbarkeit, sein breit gefächertes Deutungsspektrum, beinahe erinnernd an Kafka’sche Ausmaße.

Natürlich ließe sich "Donnie Darko" einerseits psychologisch erklären. Es wäre wohl eine der simpelsten Varianten, Donnies Erlebnisse mit der Welt des rational nicht Erfassbaren als neurotisch bedingte Halluzinationen hinzunehmen; das sich gegen Ende über seiner Heimatstadt zusammenbrauende, dunkle und ziemlich paranormale Gewölk oder die transparenten, aus den Oberkörpern der Menschen entspringenden Wurmfortsätze als bloße Hirngespinste Donnies zu akzeptieren. Es wäre ebenfalls gegenüber anderen höchst komplizierten Deutungen ein verhältnismäßig Leichtes, den Einschlag der Flugzeugturbine als Beginn eines Traumes aufzufassen, der in der zeitlichen Dimension von 28 Tagen, 6 Stunden, 42 Minuten und 12 Sekunden spielt. Schließlich übersteigen Donnies Fähigkeiten nach diesem Erlebnis das physikalisch Erklärbare. Er vermag eine Axt in eine massive Bronzestatur zu schlagen. Er sieht Dinge, die andere Menschen nicht sehen.

Kurzum verläuft Donnie Darkos Leben während des Countdowns nur allzu schwärmerisch. Donnie flutet die Schule und findet die große Liebe Gretchen, deren Name sicherlich nicht nur zufällig an Goethes Gretchen aus "Faust" erinnert. Donnie weiß der augenscheinlichen Idylle und der propagierten Harmonie Paroli zu bieten und entlarvt schließlich unter Anweisung Franks den sektirisch anmutenden Guru Jim Cunningham als Angehörigen eines Kinderpornografie-Ringes, indem er sein Haus in Brand setzt. Wer ist dieser scheinbar allwissende Frank überhaupt, der sich etwa im Kino, während "Tanz der Teufel" auf der Leinwand flimmert, zu Donnie gesellt? Ein widerspenstiger Dämon? Oder gar ein göttliches Wesen, das Donnie noch fast einen Monat holden Lebens schenkt, das mit dem Einschlag der Flugzeugturbine eigentlich schon verloschen wäre?

Wer aber auf der Suche nach einer Richard Kellys am nächsten kommenden, von ihm allerdings ausdrücklich nicht als ultimativ geltend bezeichneten Interpretation ist und wem die im Film aufgeworfene Problematik von Zeitreisen und Wurmlöchern behagt, der sollte einmal mehr als nur einen flüchtigen Blick in das fiktive, nicht allzu viele Zeilen umfassende Buch "Die Philosophie des Zeitreisens" von Roberta Sparrow alias Grandma Death werfen, das sich einerseits auf der Collector’s Edition befindet, andererseits aber ebenso im World Wide Web herumgeistert. Die sich hieraus ableiten lassende Deutung stellt mit Sicherheit die am schwersten zugängliche dar, vermag aber die meisten Fragen zu klären. Demnach sei in jener Nacht zum 2. Oktober 1988 durch die Turbine, von der niemand weiß, woher sie stammt, neben dem stets existierenden Hauptuniversum ein instabiles Tangenten- beziehungsweise Paralleluniversum entstanden. In 28 Tagen, 6 Stunden, 42 Minuten und 12 Sekunden würde es schließlich kollabieren, ein schwarzes Loch innerhalb des Hauptuniversums schaffen und die Auslöschung jeglicher Existenz besiegeln. Es obliegt letztendlich jedem selbst, sich auf diese höchst philosophische wie fantasievolle und irreale Deutung einzulassen. Zumindest öffnet Richard Kelly auch im Film thematisch die Pforte zum Zeitreisen und zeigt hiermit Verbundenes - wie etwa Franks Augenverletzung, die dem wahrhaftigen Frank später in der Gegenwart erst noch zugefügt werden wird.

Weitab des Deutungsausmaßes verbirgt sich hinter "Donnie Darko" aber in jedem Falle eine ausgesprochen pfiffige Satire auf eine ekelhaft biedere Gesellschaft und ihr Scheinheiligtum, welches insbesondere von Donnies Schule getragen wird. Beth Grant darf mit ihrem hervorragenden Spiel die zweidimensionale Kitty Farmer zur Schau stellen, in deren von widerlich schmierigen Cunningham-Videos verblendeter Lebensphilosophie nur Angst und Liebe existieren und diese äußerst infantile Polarisierung über allem steht. Nicht zuletzt spiegelt die von Farmer geleitete Tanzgruppe "Sparkle Motion" auch das Showbusiness, das reine, inhaltslose Entertainment wider. Die Oberflächlichkeit erhält exemplarisch den Applaus und die Begeisterung des Publikums, während der graziöse, leidenschaftliche, wirklich künstlerische Auftritt der ewig gemobbten, übergewichtigen Cherita Chen zuvor jämmerlich abserviert wurde.

Und wahrlich ist "Donnie Darko" eigentlich ein Werk von noch weitaus größerer Vielschichtigkeit, ein schier unendlich weiter Komplex mit einem ausgezeichneten Darstellerensemble, einer verzaubernden Atmosphäre und schließlich einem ungeheuerlich schönen Soundtrack. Richard Kellys Werk ist eine bissige Entlarvung gesellschaftlicher Irrtümer, aber auch ein unterschwelliger Lanzenbruch für Liebe und Menschlichkeit. Es ist eine kaum abzulehnende Einladung für utopische Interpretationen und unglaubliche Gedankenexperimente; es ist ein Maß für hinreißende Sinnlichkeit und unbeschreibliche Eindringlichkeit - ein Maß für pure Faszination. Schlicht überwältigend.

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