Während die Welt mit jedem neuen erlebten Tag rationaler wird und von ihrem Mysterium einbüßt, wenn wir langsam glauben, ihre Mechanismen durchschaut zu haben, spätestens dann lassen wir unsere Kindheit hinter uns. Und mit ihr die Fähigkeit der Imagination. Dabei ist die Vorstellungskraft eine der größten Eigenschaften des Menschen. Des Filmschaffenden ohnehin.
Es ist nurmehr eine traurige Bestätigung dieser These, wie negativ das neue Werk des M. Night Shyamalan aufgenommen wurde. Nein, es sind nicht einmal die schlechten Kritiken als solche, die so erschrecken - es ist das fehlende Wohlwollen, das mit ihnen kolportiert wird. Die mangelnde Bereitschaft, sich unbeeinflusst von der Vergangenheit ein eigenes Urteil zu machen. Mit der schweren Bürde des Welterfolges von “The Sixth Sense”, das den indischen Regie-Superstar auf einen Plottwist-Mechaniker reduzierte, trägt jedes seiner neuen Werke von vornherein eine schwere Hypothek. Und als erste Bilder und Storyfragmente von “Lady in the Water” an die Oberfläche gerieten, konnte man beinahe wieder das Stöhnen vernehmen, bevor auch nur ein einziger Filmkritiker in die Pflicht kam, sich seine vorgefertigten Mutmaßungen bestätigen zu lassen.
Natürlich hat Shyamalan wieder alles falsch gemacht, denn er verfilmte erneut eine ganz und gar nichtige Story, eine kognitive Gedankenassoziation, die er einst produzierte, als er seinen Töchtern eine Gutenachtgeschichte erzählte. Und nun ist es sicherlich die Belanglosigkeit in der (dem Plottwist wieder auffällig artverwandten) moralischen Aussage der Geschichte und der beliebige Fortgang der Handlung, der so wenig zufrieden stellt. “Lady in the Water” erreicht sein Publikum nicht, weil es einen simulierten Spielcharakter hat und im höchsten Maße konstruiert ist. Was jedoch offenbar keiner wusste: Es geht hier nicht um das moralische Extrakt der Geschichte, es geht vielmehr um den Akt des Erzählens selbst.
Was man im fünften Kapitel aus Shyamalans Gesamtwerk bekommt, ist eine Brücke zwischen dem Ufer des neuen, nach Realismus und Charakterkomplexität strebenden Kinos und der Pforte zum Phantastischen Film. Man wähnt sich in einer Exposition zu den Toren von Wolfgang Petersens “Die Unendliche Geschichte” und wird an diesen Klassiker des Märchenfilms nicht zufällig dauernd erinnert. Wie “Alice im Wunderland” jedoch ist die Realität der Ausgangspunkt. Er soll den Erwachsenen von weltlicher Prägung dort erfassen und mit Dingen konfrontieren, an die er seit seiner Kindheit nicht mehr gedacht hat. Offenbar ist der Versuch fehlgeschlagen. Aber ist das wirklich der Fehler dieses Filmes?
Denn Shyamalan schwelgt in seiner eigenen Phantasie und erlaubt sich alle Freiheiten dieser Welt, justiert sogar innerhalb der Erzählung nochmals nach und ist sich nicht einmal für Selbstironie oder ziemlich große Seitenhiebe gegen seine eigenen Kritiker zu schade. Die gewohnt großartigen, diesmal türkisblau geprägten Bildkompositionen und der melancholische, stets auf einen Klimax gemünzte Score von James Newton Howard unterstützen diesmal die Phantasie des Regisseurs, die ähnlich sprunghaft bebildert wird, wie es in einer improvisierten Erzählung der Fall wäre.
Die dramaturgischen Brüche wirken dadurch beinahe schon naiv. Sie würden einem großen Film nie im Leben passieren. Da stimmt Howards Soundtrack anschwellend die absolute Erkenntnis an, und dann stellt sich heraus, dass alles gar nicht so ist, wie es scheint, und ohne Begründung wird einfach eine andere Annahme ins Feld geworfen und von Howard schließlich genauso gefeiert wie diejenige zuvor. Doch kann man diese Brüche wirklich bemängeln in einer Geschichte, die um des Gefühls der Erzählung willen angestimmt wird? Oder sollte man die unbeholfenen narrativen Strukturen und die groben Genresprünge vom Drama über die Komödie, gar Satire, zum Horror nicht vielmehr so bewundern, wie man die Phantasie eines kleinen Kindes bewundert, auch wenn man es doch eigentlich viel besser weiß. Es gibt keine Monster, nein - aber das Wissen um diese Tatsache der Nichtexistenz solcher Wesen, nimmt es ihnen die Magie? Nein.
Mit dem ihm eigenen Gefühl konstruiert Shyamalan Figuren um einen abgeschlossenen Hochhauskomplex, wirft einen Hausmeister ein, der aufgrund seiner Funktion wiederum allerlei weitere Gestalten einführt, in deren Wohnungen er Reparaturen erledigt. “Six Feet Under”-Star Freddy Rodríguez als Mann, der nur seine rechte Körperhälfte trainiert; ein Filmkritiker, der seinen Glauben an die Originalität verloren hat; ein Schriftsteller ohne Motivation, der nicht recht an den Titel seines neuen Werkes, “Kochbuch”, glaubt; ein Haufen Jugendlicher, die auf der Suche nach einem neuen Wort sind, das sie salonfähig machen wollen. Überall sind Hinweise versteckt, manche mehr, manche weniger offensichtlich. Bei ihnen geht es um Funktionszuweisungen, eben um die Mechanismen eines Märchens, die der Regisseur herausgestellt haben will. Dass er jene Funktionszuweisungen mehrfach variiert, verdeutlicht nurmehr, wie wenig interessant eigentlich der Inhalt ist.
Und dann ist da selbstverständlich das Hauptdarstellerpärchen Paul Giamatti und Bryce Dallas Howard - und Howard zeigt, wie ein Mythos in einer Person inkarniert aussehen muss. Ein zaghaftes, geheimnisvolles Wesen voll von innerer Ruhe und uraltem Wissen von Ebenen, die ein Mann wie Cleveland Heep (dem ironischen Touch des Films entsprechend schön trampelig gespielt von Paul Giamatti) nie kennengelernt hat. Wenn sie da mit strohblondem, nassen Haar und tiefdunklen Augen ohne Weiß hinter dem regendurchtränkten Hausmeister am nächtlichen Pool steht, wirkt sie aus dem Zusammenhang gerissen wie eine aufkeimende Bedrohung; in den Armen des gleichen Mannes halb schlafend mit gewelltem roten Haar dagegen wie ein hilfloses, kleines Kind; unter der laufenden Dusche als stummes Wesen wie ein unergründliches Mysterium, und durch den Umstand, dass sie hier mit einer Frau über Gestik kommuniziert und dies wiederum an den Hausmeister übersetzt wird, kommt man auf das ewige Rätsel der Unterschiede zwischen Mann und Frau - das Märchen von Mars und Venus.
Und wie man die zutiefst beruhigenden, auf eine seltsame Art faszinierenden Auftritte des Regisseurs in seinen eigenen Filmen derart mit Attributen belegen kann, die ihm einen Hang zur Selbstdarstellung als Wunsch der Transportation visionärer Erkenntnisse unterstellen, wird mir auch weiterhin ein Rätsel sein. Shyamalan geht in seinen Rollen genau deswegen auf, weil er mit seiner teilnahmslosen Agonie und seiner endgültigen Resignation dem Wesen seiner Filme Tribut zollt, um zwei Ecken gedacht gar die Selbstironie antreibt, die sich hier im Zwiegespräch mit dem Kritiker ergibt, der die Geschichte aus einer Meta-Ebene zu durchschauen glaubt.
Doch bei all den logischen Brüchen und Widersprüchlichkeiten ist das Szenario dennoch so unheimlich stimmig und vollkommen, wirkt einfach “richtig”. Die ein, zwei Schockeffekte durch die Wolfswesen (wobei die Glasbruchszene eine technische Reminiszenz an das eingesperrte Alien aus “Signs” darstellt) stehen vollkommen isoliert im Raum und passen sich dennoch ins Gesamte ein. Nicht einmal die Computerherkunft der Wesen stört, denn es sind ja Kreaturen aus einer jenseitigen Welt. Erklärungen, was woher kommt, sind ohnehin nicht von Interesse. Exzentrische Regeln sind es, die über den Ausgang der Geschichte bestimmen. Ein Blick durch den Spiegel, der Geheimnisse offenbart, ein Zauberspruch oder Heilkräuter, die irgendwo unter dem Pool versteckt sind, liegend auf Gläsern, die mit Luft gefüllt sind wie die Präparation auf ein vorbestimmtes Ereignis, das alsbald auch eintritt.
Und so bleibt Shyamalan nach “Lady in the Water” das, was er auch vorher war: Nicht nur ein großartiger Handwerker, sondern auch ein Visionär, der dem Kino unserer Zeit in regelmäßigem Abstand neue Schübe verleiht und dafür vorwiegend mitleiderregendes Kopfschütteln erntet, wird doch seit “The Sixth Sense” ein beinahe automatisierter Qualitätsabschwung registriert. Dabei ist schon “Unbreakable” eines der verkanntesten Meisterwerke dieses Jahrtausends. “Lady in the Water” verzichtet erstmals auf ein dem Plottwist ähnliches Finale, arbeitet aber leider dem aktuellen Trend entgegen, Märchen zu demontieren und zu deformieren - wie zuletzt in “Shrek” oder “Running Scared” geschehen - um vielmehr im Gegenteil seine Strukturen zu rekonstruieren und dem Erwachsenen das Gefühl zurückzugeben, ein kleiner Junge in einer Welt voller Gefahren und voller Schönheit zu sein. Die Milch am Bart einfach kleben lassen, sich auf dem Sofa einrollen und ganz aufgeregt den Geschichtenerzähler dazu zu drängen, fortzufahren. Und dann langsam einzuschlafen.
Es hat nicht funktioniert. Weiß der Himmel, warum.