"I pugni in tasca" (Mit der Faust in der Tasche) war völlig neuartig - ein Film, der unmittelbar auf die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, Mitte der 60er Jahre, reagierte. Marco Bellocchio führte in seinem ersten Film, den er nur mit der Unterstützung seiner Familie produzieren konnte, die gegensätzlichen Strömungen seiner Zeit zusammen, und ließ daraus ein verstörendes, explosives Gemisch werden, dass die kommenden Ereignisse der späten 60er Jahre in verklausulierter Form voraus sah.
Lou Castel, der in Kolumbien geborene schwedisch stämmige Darsteller, trat in "I pugni i tasca" ebenfalls erstmals in Erscheinung und ist die Idealbesetzung eines Typus, der die von Marlon Brando oder James Dean verkörperten zornigen jungen Männer der 50er Jahre in einen verzweifelten, ohne heldenhafte Attitüde auskommenden Charakter umwandelte, der nur noch mit Zerstörungswut auf eine vergängliche, krankhafte Umgebung reagieren kann. Sein klar gezeichnetes Gesicht, seine ruhige, nach außen hin cool wirkende Art und sein antibürgerliches Verhalten könnten ihn zum klassischen Rebellen werden lassen, zur Identifikationsfigur des Films, aber sein Gemüt ist schon gezeichnet von den ihn umgebenden Verhältnissen. Regelmäßig treiben ihn Anfälle an den Rand des Wahnsinns und sein emotionales Empfinden ist gestört, gezeichnet von einem krankhaften Narzissmus.
Die Rebellen der 50er Jahre waren positiv besetzte Figuren, ihr Aufstand galt einer konservativen Nachkriegsgesellschaft und beschwor die Zukunft einer aufstrebenden Jugend. Davon ist in Bellocchios Films nichts mehr zu spüren, denn die junge Generation beschreitet längst den Weg der Anpassung. Verkörpert wird sie in "I pugni in tasca" von Augusto (Marino Masé), dem Einzigen in seiner Familie ohne offensichtliche Disfunktion. Er hat einen Job, ein Auto und eine Freundin (Jeannie McNeil), die er heiraten möchte. Seine Welt und die seiner Freunde wird schon von den Insignien der Moderne bestimmt, aber ihre Bedürfnisse bleiben konservativ. Dass Augusto nicht sofort in die nahe gelegene Stadt zieht, liegt einzig an seiner Familie, um die er sich kümmern muss. Dahinter verbirgt sich kein Altruismus, sondern das Gefühl der Überlegenheit, dass er seine Mutter und die drei jüngeren Geschwister spüren lässt, wenn er im Stil eines Patriarchen die Vorgänge in dem alten Familienstammsitz, der einsam in den Bergen der Emilia-Romagna gelegen ist, bestimmt.
Zuerst noch eine angenehme, nachvollziehbare Figur, wird Augusto zunehmend zum Stellvertreter einer Generation, die sich nur noch für ihre eigenen Belange interessiert. Häufig wird Bellocchios Film deshalb als Darstellung einer sich verändernden Sozialisation interpretiert - weg von den früheren Familienstrukturen, hin zu einer hedonistischen Lebensform - aber "I pugni in tasca" geht deutlich darüber hinaus. Die weiteren Familienmitglieder stehen stellvertretend für eine krank gewordenen Gesellschaft. Die blinde Mutter (Liliana Gerace), ist das Sinnbild einer älteren Generation, die weder in der Lage ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, noch auf die Gegenwart zu reagieren. Der freundlichste Charakter, der jüngste Sohn Leone (Pier Luigi Troglio), ist geistig behindert und seine emotional labile Schwester Giulia (Paola Pitagora) versucht mit einem anonymen Brief die Beziehung Augustos zu dessen Freundin zu zerstören und steht in einer inzestiösen Beziehung zu Alessandro.
Bellocchio erzählt nicht immer linear, springt zeitlich zurück oder visualisiert Phantasien, verdichtet seinen Film damit zum Blickwinkel Alessandros und dessen Wahrnehmung seiner Umgebung. In einer zentralen Szene des Films nimmt Augusto ihn mit auf eine Party. Junge Leute, moderne Musik und ein lockerer Umgang zwischen den Geschlechtern, aber Alessandro bleibt ein Fremdkörper. Ein Mädchen interessiert sich für ihn, aber er kann sich nicht darauf einlassen. Er begehrt nicht auf, wählt keine offene Konfrontation oder provoziert bewusst, sondern versucht im Gegenteil, zu konservieren, was ihn krank werden ließ. Um das "normale" Leben seines Bruders zu ermöglichen, beginnt er alles zu zerstören, was diesen daran hindern könnte - auch sich selbst.
Bellocchios Film war zu seiner Entstehungszeit eine Provokation, aber die Wirkung, die von dessen Protagonisten damals ausging, erschließt sich noch heute und hat ihre generelle Bedeutung bewahrt. Die Figur des Alessandro ist Anpassung und Protest, Erhalt und Zerstörung zugleich, versinnbildlicht von einer großartigen Musik Ennio Morricones, die Schönheit und Wahnsinn miteinander verbindet. "I pugno in tasca" kann keine Erlösung bringen, endet mit einer Zerrissenheit, die kurz vor der Explosion zu stehen scheint und damit einen Zeitgeist wiedergibt, der wenige Jahre später zu weltweiten Protesten führen sollte. An der Situation, einen Zustand erst zu ermöglichen, an dem man gleichzeitig leidet, hat das nichts geändert. (9/10)