DOGMA im Endstadium
Nachdem Lars von Trier als einer der bekanntesten Vertreter des DOGMA95-Manifests bereits mehrere provokative, radikale Werke nach den Regeln abgedreht hat (man denke nur an "Idioten"), schuf er mit "Dancer in the Dark" eine Art Schlusspunkt dieser Idee. Auf der einen Seite schont er den Zuschauer nicht und bewegt sich weiterhin auf ungeschönigtem emotionalem Terrain. Doch verletzt er nun auf einmal die Regeln, um die rohe Ästhetik aufzubrechen, inszeniert ein gar surreales Musical inmitten seines erschütternden Films.
Die Protagonistin, wunderbar gespielt von Björk, ist eine tschechische Immigrantin in den USA der 60er. Sie ist nicht sehr begabt, ein einfacher Mensch, und sie hat eine schwere, vererbte Augenkrankheit, die sie langsam immer blinder werden lässt. Von einem freundlichen Ehepaar aufgenommen, lebt sie mit ihrem Sohn in einem kleinen Wohnwagen und arbeitet in einer metallverarbeitenden Fabrik. Sie liebt Musicals über alles - aber ihr einziges Ziel ist es, genug Geld für eine Augenoperation an ihrem Sohn zu sparen, damit ihm nicht das gleiche Leid widerfährt wie ihr.
Schüchtern und bescheiden wie sie ist, verzichtet sie auf jegliche Hilfe ihrer Freunde und beißt sich durch. Doch die Dinge nehmen ihren Lauf, ihre Situation verschlechtert sich, das Ehepaar kommt auch in eine finanzielle Krise und ihr angespartes Geld und ihre Gutmütigkeit werden Selma zum Verhängnis...
Behutsam und ein wenig dokumentarisch schildert von Trier anfangs ihr Leben. Noch herrscht eine gewisse Harmonie, obwohl es hart für sie ist. Immer wieder wird der Film durch einige Musicalsequenzen unterbrochen, in denen Björk in ihrem Stil expressiv in surrealer Stimmung zu einer mystischen, puristisch anmutenden Musik singt und tanzt, die Welt auf einmal lebhafter und bunter wird. Was jedoch in der ersten Hälfte eher eine gelungene Auflockerung bietet, intensiviert im weiteren Verlauf der Handlung nur noch das Geschehene und drängt den Zuseher dabei zum Nachdenken. Dieser manchmal falsche Glanz schlägt in der allerletzten, beispiellos intensiven und erschütternden Szene der völligen Aufopferung um in den blanken Ausdruck von Leid, Bitterkeit und auch Erleichterung. So wird die Musik schließlich zum einzigen Gefühlsausdruck in der kalten, tristen, materialistischen Welt des Arbeitermilieus in Amerika. Eine raue Welt, in der Habgier und Egoismus immer präsent sind.
Verbitterung in einer kritischen Form. Warum war Selma so gutmütig? Hätte sie allen vertrauen dürfen? Warum musste es so weit kommen?
Alles in allem ist "Dancer in the Dark" einer der aufwühlendsten, emotional erschütterndsten Filme (ganz ohne Effekthascherei), voller Eigenartigkeit und mit vielen interessanten gestalterischen Ideen. Aufopferung, Moral, Schuld, Menschlichkeit - darum geht es. Das Meisterwerk nimmt einen gnadenlos mit und lässt nicht mehr los. von Trier hat den DOGMA-Stil hiermit perfektioniert und zugleich gebrochen. Das Projekt DOGMA 95 ist wohl (zumindest für ihn) vorbei, mit einem würdigen Ende. "Dancer in the Dark" ist das warscheinlich beste Beispiel für einen heftigen, emotional brutalen und zutiefst tragischen Film, ohne dass wir es mit "großes Gefühlskino"-Gesülze zu tun haben (dann wäre es bei weitem nicht so intensiv geworden). Ich kann dabei nur wieder betonen, dass gerade das Ende des Filmes in seiner Tragik, "Härte" und Expression unglaublich und einmalig ist und für längere Zeit wohl bleiben wird, sowie alles Vergleichbare (etwa Kieslowskis "Ein kurzer Film über das Töten" oder "Dead Man Walking") noch übertrifft
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