Obrigkeitsfilm (1971)
Vlado Kristl, der selbsternannte "Mensch-Versuch", drehte Filme, die für viele eher Film-Versuche zu sein schienen. "Don Kihot" (1961) und "Prometheus" (1966) heißen zwei frühe Animationskurzfilme Kristls: Sein Interesse an scheiternden/gescheiterten Figuren, die gegen die Umgebung ankämpfen, kann man autobiografisch lesen... Kristl, in Zagreb geboren, drehte zwischen 1959 und 1962 in Jugoslawien, wo nach "General i resni clovek" (1962) endgültig in Ungnade fiel. In Deutschland feierte in dieser Zeit mit "Don Kihot" großen Erfolg in Oberhausen. Mit den Oberhausenern, den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, knüpfte er zu dieser Zeit Kontakte, ging nach Deutschland, blieb dort, starb dort. In den 60er Jahren gehörte er zu den wichtigen Vertretern des Jungen bzw. Neuen Deutschen Films: Das Interesse am Kampf der zum Scheitern verurteilten eint ihn mit Werner Herzog. Wo Herzog international immer erfolgreicher zu werden schien – wenn er auch in den 90er Jahren ins Straucheln geriet –, glitt Kristl zunehmend in die selbstgewählte Obskurität ab: selbstgewählt deshalb, weil er mit radikaler Verweigerungshaltung gegen alle Regeln und Vorgaben anzugehen trachtete; scheinbar eine Reaktion auf die Überwachung und Zensur in seiner Heimat. Heraus kamen Klassiker wie "Der Damm" (1965), der größte Flop des Neuen Deutschen Films, und "Der Brief" (1966), der vom Carl-Mayer-Preis-gekrönten Drehbuch nur noch wenige Fragmente in einer irritierend zusammenhangslos anmutenden Verfilmung übrig ließ. "Ein voller Kinosaal bedeutet niedere Beweggründe", sinnierte Kristl einst, dem die Kolleg(inn)en des Neuen Deutschen Films alsbald korrupt erschienen. In späteren Jahren trugen seine Filme Titel wie "Die Verräter des jungen deutschen Films schlafen nicht" (1982), "Tod dem Zuschauer" (1984) oder "Kunst ist nur außerhalb der Menschengesellschaft" (2002): Die Verweigerungshaltung erscheint schon im Titel, die Verweigerung manifestiert sich in Filmen, die nicht nur Mainstreamkinogänger(inne)n als hartes Brot erscheinen...
"Obrigkeitsfilm", am 5. Juni 1971 uraufgeführt, lässt diese Verweigerung im Titel eher bloß erahnen – da es immerhin auch ein Film über oder für die Obrigkeit sein könnte, der im Kontext kristlschen Schaffens allerdings kaum Platz finden könnte –, zelebriert sie dann aber um so krasser: Halb Essayfilm, halb Experimentalfilm – eine Gattung, die Kristl als Begrifflichkeit vehement ablehnte –, fragt der "Obrigkeitsfilm" danach, wie sich Obrigkeitsverweigerung initiieren lässt, ohne in diesem Initiieren selbst bereits wieder neue Formen einer neuen Obrigkeit zu kreieren. (Quasi: Revolution zu machen, ohne als Revoluzzer zum neuen Machthaber aufzusteigen.) "Will man [...] die Obrigkeit [...] negieren, ist das Problem, dass wir keine adäquate Sache an deren Stelle zu setzen haben", heißt es im Prolog des Films, der dann gegen alle Konventionen des fiktionalen Films rebellierend kleine Vignetten, Fragmente, Episoden und Erscheinungen durchmischt, in denen Widerständiges vom Verkehrsregelverstoß über freie Liebe bis hin zur Brandstiftung und Diskursen über Regel und Verstoß, Macht, Ohnmacht, Anpassung und Widerstand bebildert wird. Dass auch das Handwerk dieses Films, in dem auch Jean-Marie Straub und Danièle Huillet als zwei andere Radikale des Neuen Deutschen Films mitwirken, gegen die Perfektion verstößt, versteht sich von selbst. Es ist ein Agitationsfilm, gerichtet gegen die Autorität, aber eben auch gegen die Autorität der Agitation: eigentlich ein perfekter 68er-Film – wäre Kristl nicht als radikaler Individualist ein extremer Außenseiter gewesen... Lange Zeit unerhältlich, hat die Edition Filmmuseum vor 7 bzw. 5 Jahren fast das ganze Schaffens Kristls bis 1971 auf zwei Doppel-DVD-Sets zugänglich gemacht: "Obrigkeitsfilm" liegt mit "Der Brief" und sechs Kurzfilmen gewohnt superb ausgestattet auf der zweiten dieser Editionen vor: Eintrag von gül.
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