La hora de los hornos (1968)
Das lateinamerikanische Kino beginnt natürlich nicht erst in den 50er Jahren, aber in den 50er Jahren treibt es entscheidende Blüten: Filmclubs, Filmzeitschriften und Filmfestivals (etwa in Montevideo) entstehen zuhauf - und vor allem der neorealistische Film aus Italien gelangt mehr und mehr zu einem recht populären Ruf. (Viele der lateinamerikanischen Filmemacher sollten zudem in Rom ihr Handwerk erlernen.) Insbesondere sozial und politisch engagierte Intellektuelle erblicken im Film eine Möglichkeit, breitenwirksamer zu agieren. In diesem Klima kommt es zum einen zu einem Boom an Kurz-Dokumentarfilmen in vielen Ländern (etwa vom Peruaner Manuel Chambi, vom Bolivianer Jorge Ruiz oder vom Argentinier Fernando Birri), zum anderen zu neorealistisch gefärbten Spielfilmen von Regisseuren wie z.B. Nelson Pereira dos Santos.
In Kuba hatte das ICAIC Ende der 50er Jahre eine neue nationale Filmkultur ermöglicht und vor allem zahlreiche Dokumentarfilme und Kurzfilme hervorgebracht. Unter Santiago Álvarez entstand dann zunehmend ein militantes Kino mit antiimperialistischem Gestus, das sich aus der Dokumentarfilm-Schule speiste, aber eher zu Essay- und Agitationsfilmen zu zählen wäre. In Bolivien prägte hingegen Jorge Sanjines Mitte der 60er Jahre mit der Gruppe Ukamau revolutionäre, nahezu agitatorische Spielfilme, die sich aber meist an die Indios der Anden richteten und auf andere lateinamerikanische Räume nur einen beschränkten Einfluss hatten. In Brasilien war es vor allem Glauber Rocha, der die vom Neorealismus beeinflusste Filmlandschaft des Landes im Cinema Novo - auch unter Einfluss der Nouvelle Vague - revolutionierte und ein politisch engagiertes Kino schuf, das Folklore, Mythen und agitatorische Momente miteinander verband.
Spätestens ab Mitte der 60er, als sich das politische Klima in vielen lateinamerikanischen Ländern zuspitzt, vermehren und radikalisieren sich revolutionäre, agitatorische Filmemacher zunehmend: Mario Handler in Uruguay, Ugo Ulive in Uruguay und Venezuela, Tomás Gutiérrez Alea in Kuba, Fernando E. Solanas und Octavio Getino in Argentinien...
Solanas & Octavio waren es auch, die mit ihrem Manifest "Hacia un Tercer Cine" (1969) die Bedeutung eines Dritten Kinos für Argentinien (aber auch für Lateinamerika insgesamt) herausgestellt hatten. Solch ein Kino gab es um 1968 auch in zahlreichen Ländern in Nordamerika, Europa und Asien, aber im lateinamerikanischen Kino bildete es eine besonders wichtige Dominante. Und "La hora de los hornos" (1968) gilt als Musterbeispiel solch eines Dritten Kinos.
Als "Erstes Kino" bezeichneten Solanas & Octavio den klassischen kommerziellen Film (der im argentinischen Kino gerade in den 40er Jahren eine Schlappe erlebte, als er vermehrt auf den internationalen Markt blickte). Als "Zweites Kinos" wurde von ihnen hingegen das Kino des auteurs gefasst, ein cine expresión, das Bestandteil des nuevo cine argentino während des Peronismus war: Torre Nilsson oder Fernando Birri gehörten etwa für sie dazu... Und der Dokumentarfilm war ausdrücklich Bestandteil eines solchen Autoren-Kinos. Allerdings erschien ihnen die Unabhängigkeit dieser Filme(macher) trotz eigener Vertriebssysteme als bloße Schein-Unabhängigkeit: Das "Zweite Kino" hielt sich in den jeweiligen Grenzen des Systems auf, besaß eine vergleichsweise eingeschränkte politische Wirksamkeit und redproduzierte letztlich die Qualität des "Ersten Kinos" für ein elitäres Minderheiten-Publikum. An dritter Stelle steht dann das "Dritte Kino", das auf einer "Entmystifizierung der Technik" gründet, einen geradezu militanten anti-neokolonialistischen Kurs einschlägt und quasi mit Guerilla-Taktiken produziert und vertrieben wird: ohne Ankündigung in Kinos gezeigt, in Clubs vorgeführt usw. Der argentinische Soziologe und Drehbuchautor Jorge Hönig zeichnete in einer kurzen Geschichte des argentinischen Kinos eine ganz ähnliche Entwicklung: "La hora de los hornos" steht für ihn schließlich für das "Dritte Kino" ein.
180 Stunden 16mm-Filmmaterial - vielfach Interviews - wurden angehäuft; zwei, drei Jahre hindurch unter den schwierigen Bedingungen der Militärdiktatur. Dabei geht es den Filmemachern vor allem darum, den Neokolonialismus sichtbar zu machen, der den Export von Rohstoffen und den Import US-amerikanischer und europäischer Konsumgüter gewährleiste und innerhalb Argentiniens asoziale Entlohnungen der Arbeiter bedinge. Bald 4½ Stunden läuft das dreiteilige Werk. Im ersten Teil (Neokolonialismus und Gewalt) werden Geschichte, Politik und Ökonomie in Argentinien abgehandelt, wobei Intellektuelle und Arbeiter gleichermaßen angesprochen werden. Dabei wird insbesondere auf eine Empörung und emotionale Reaktion des Publikum spekuliert: am eindrücklichsten sicherlich in jener Szene, in der das verborgene Geschehen eines Schlachthausalltags dokumentiert und zu einlullender Musik mit Werbe-Bildern montiert wird. Diese an Eisensteins "Stachka" (1925) und Franjus "Le sang de bêtes" (1949) geschulte Szene liefert ein affizierendes Schockbild für die unsichtbare Ungerechtigkeit und der schönen Oberfläche des alltäglichen Lebens - und weist Ähnlichkeiten zu weiteren subversiven Spiel- und Essayfilmen der späten 60er und frühen 70er Jahre auf. Überhaupt besitzt dieser Kinoguerilla-Streifen eine beachtliche Form: Opernarien, Latin und Pop-Musik, Off-Kommentare, O-Ton, erzitternde Kamerabilder, grobe Handkameraaufnahmen und saubere Schwenks, Montagen aus Statuen, Stichen und Gemälden, geschickt platzierte Archivaufnahmen, geborgte Szenen von Fernando Birri und Joris Ivens... alles fließt hier in beeindruckender Form zusammen um dient effektiv dem agitatorischen Anliegen. Am Ende des ersten Teil steht dann die zweite berüchtigte Szene des Films: Das Gesicht des Leichnams von Che - drei Minuten als Standbild zu aufpeitschenden Trommelklängen.
Der zweite Teil (Akt der Befreiung) präsentiert dann die Phase des Peronismus als eine nationale Befreiung, ehe er die Folgezeit bis 1966 schildert. Die Zeichnung des Peronismus ist nicht bloß formal weniger erstaunlich, sondern gibt auch inhaltlich mehr Angriffsflächen für Kritik ab: Peron, der immerhin immer wieder mit den Nationalsozialisten harmonierte, wird recht eindimensional verhandelt und ausgesprochen positiv bewertet. Der dritte und kürzeste Teil (Gewalt und Befreiung) widmet sich dann den Erfahrungen und Ansichten bezüglich der Notwendigkeit von Gewalt für die Befreiung.
"La hora de los hornos" ist ein Film, der neben vielen Klugheiten auch einige Dummheiten aufweist, der inszenatorisch nicht durchgängig die Effektivität seines ersten Teil bietet, dessen Sichtung zudem wegen der Faktenfülle - gerade im Rückblick nach 50 Jahren - einen wahren Kraftakt darstellt. Seinen Status als Meilenstein des lateimamerikanischen militanten Kinos hat er aber zurecht inne. Er ist der monolithische Klotz nicht bloß des argentinischen, sondern des lateinamerikanischen militanten Kinos schlechthin - der im Ausland ab dem Juni 1968 die Festivals eroberte und in Argentinien nur inoffiziell zu sehen war. (Vergleichbar ist allein vom Umfang her allenfalls noch Patricio Guzmáns dreiteilige Chile-Doku "Batalla de Chile" (1975-1979), die allerdings mit französischer Unterstützung dank Chris Marker angefertigt worden ist.)
Solanas' & Octavios Hauptwerk liegt auf zwei DVDs bei Trigon vor: Fassungseintrag von PierrotLeFou
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