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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Der Mai ’68 und das unsichtbare Kino Godards – 1968-Retrospektive VII, Mai ’68 III, Ästhetik & Rebellion III

Stichwörter: 1960er 1968-Retrospektive Dokumentarfilm Essayfilm Frankreich Godard Jubiläum Klassiker Kollektivfilm

Un film comme les autres (1968)

Am 13. Mai 1968 ereignet sich in Frankreich zweierlei, was in die Jahreschronik eingehen sollte: In Paris werden Waffenstillstandsverhandlungen zur Beendigung des Vietnam-Kriegs aufgenommen und in ganz Frankreich solidarisieren sich die Arbeiter mit den demonstrierenden Studenten und liefern einen Generalstreik, der sich mehrere Tage halten sollte und an dem etwa 8 Millionen Arbeiter teilnahmen.
Godard, der schon im Vorjahr mit Chris Marker und anderen nach Besançon gegangen war - wo Marker schließlich den Streik-Film "À bientôt, j’espère" (1968) drehte und sich mit Godard, Ivens, Berto und anderen Filmschaffenden dem Kollektiv Groupe Medvedkine der Streikenden anschloss , der ab Februar 1968 unter Markers Oberleitung an den "Cinétracts" (1968) mitgewirkt hatte, welche sich vor allem dem Pariser Mai widmeten, sollte mit dem im Sommer 1968 entstandenen "Un film comme les autres" (1968) nochmals (und nicht zum letzten Mal) zu dieser Streik- & Demonstrationsthematik zurückkehren.
"Un film comme les autres" war aber vor allem der Beginn von Godards Phase der unsichtbaren Filme. "1+1" (1968), den Godard zwischen dem 30. Mai und August 1968 während zweier größerer Reisen in Großbritannien gedreht hatte, endete bekanntlich mit einer alternativen Fassung des Produzenten, der von Godard für diesen Eingriff eine Ohrfeige erhielt. Mit dieser Ohrfeige war der Bruch zwischen Godard und der Filmindustrie, der klassischen Filmproduktion einhergegangen. Aber schon der mehr oder weniger parallel mit "1+1" entstandene "Un film comme les autres" war Ausdruck des neuen Godards, der nun verwirklichte, was sich über "La chinoise" (1967), "Week End" (1967), die schon 1967 begonne Arbeit an "Le gai savoir" (1969) und die Gemeinschaftsarbeiten "Loin du Vietnam" (1967) und "Cinétracts" längst abgezeichnet hatte: "Un film comme les autres", der weder einen Vorspann, noch einen Abspann besitzt und über dessen (auf ein Standbild handschriftlich niedergekritzelte) Titeleinblendung bereits die ersten Dialoge laufen, gilt als erstes Werk der Groupe Dziga Vertov, zu der neben Godard vor allem noch Jean-Pierre Gorin sowie Jean-Henri Roger, Paul Burron, Armand Marco und Gérard Martin zählten. Es gab auch einige Mitstreiterinnen in der Gruppe, die aber zumindest vor der Kamera den Männern untergeordnet blieben: In einem Interview mit dem ZDF agierte die einzige Frau der Gruppe bloß auf Godards Geheiß, in "Un film comme les autres" wird die einzige Frau einer Diskussionsrunde mehrfach von ihren Gesprächspartnern abgewürgt oder übertönt. (Darin bleibt Godard seinem früheren Werk mit den manchmal fragwürdigen Frauenbildern verbunden.) "Un film comme les autres" gilt also als Godards erstes Kollektiv-Werk, gleichwohl schon früh Infos kursierten, dass er tatsächlich das einzige Mitglied der Groupe Dziga Vertov war, welches an Regie, Buch, Kamera, Schnitt und Ton mitgewirkt haben soll. (Es folgten Hinweise, dass der Film noch vor der offiziellen Gründung des Kollektivs entstanden sei: Indes besteht in diesen Fragen keine Einigkeit und selbst die Infos zu den Drehzeiten und Erstaufführungen gehen bisweilen auseinander.) Dass Godard zwar ins Filmkollektiv entschwinden und sich dem regulären Filmvertrieb entziehen wollte, letztlich aber doch eine sehr dominante Handschrift in vielen Werken des Filmkollektivs hinterließ und ihr lautestes Sprachrohr blieb, wurde ihm (und seiner unübersehbaren Egozentrik) in späteren Jahren immer wieder einmal zum Vorwurf gemacht. Dennoch ist "Un film comme les autres" anders als frühere Godards: Entgegen seinem Titel ist es eben kein Film wie die anderen. (Höchstens ein Film, der einigen folgenden Filmen der Groupe Dziga Vertov teilweise ähnelt.)
Hier gibt es visuell einen anstrengenden Minimalismus, der zumeist drei Studenten und zwei Renault-Arbeiter in einer Wiese zeigt. Meist sieht man nicht einmal die Gesichter der Figuren, die entweder aus dem Bildfeld ragen, der Kamera den Hinterkopf zudrehen oder von Gräsern und Zweigen verdeckt werden. Auf der Tonebene überlagern sich die Diskussionen - und eine Kommentarspur - teils derartig, dass die gängigen deutschen Untertitel gar nicht mehr adäquat mitkommen und bisweilen große Teile unterschlagen, die aber wegen der überladenen Tonspur auch für französische Muttersprachler nicht mehr so ganz leicht zu verfolgen sind. Und immer wieder wird Archivmaterial zwischengeschnitten, das manchmal den "Cinétracts", manchmal den Cinegiornali del movimento studentesco und sicherlich noch weiteren Quellen entstammt: Stets Ereignisse der '68er-Revolten darbietend, die jedoch nicht immer sofort eingeordnet werden können und recht unvermittelt und willkürlich den roten Faden der Diskussion zwischen Arbeitern und Studenten unterbrechen. Diese rekapitulieren auf einer Wiese in Nanterre die Ereignisse des Mai '68, besprechen aber auch, ob die Studenten oder aber die Arbeiter mehr bewirken können/müssen, diskutieren über die unterschiedlichen Privilegien in der Fabrik und in der Universität, über die jeweiligen Probleme und Zielsetzungen; wohingegen die Archivbilder und vor allem der Kommentar immer wieder ausscheren und den Blick auf Italien, die USA, den Ostblock usw. richten.
Das ist in Details immer wieder interessant und ergiebig, insgesamt aber auch ausgesprochen anstrengend und nur von einem Zuschauerkollektiv mit Bereitschaft zur anschließenden Diskussion zu stemmen. Entsprechend wenig Zuschauer konnte der Film damals für sich verbuchen, zumal er nicht über einen regulären Filmvertrieb in die Kinos gebracht worden war und hierzulande lange Jahre gar nicht zu sehen war. "Un film comme les autres" entpuppt sich als Werk, das seinen Titel Lügen straft und die Strapazierbarkeit seines Publikums auf eine Weise ausreizt, wie man sie vielleicht bloß noch von Vlado Kristl kennt.
Mittlerweile liegt der Film seit 2011 bei Arthaus/Kinowelt auf DVD in der Jean-Luc Godard Edition 2 vor (Fassungseintrag von Athen), wobei leider das Bonusmaterial überaus spärlich ausfällt und gerade bei diesem Godard ausgesprochen hilfreich wäre.


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