Nora inu (1949)
Ein Jahr vor seinem großen internationalen Durchbruch mit „Rashomon“ brachte der japanische Regisseur Akira Kurosawa seinen neunten und bis dahin ausgereiftesten Spielfilm in die Kinos: am 17. Oktober 1949 startete „Nora inu“, ein in der Gegenwart spielender Polizeithriller mit neorealistischem Anstrich und tief humanistischer Botschaft, wie sie für spätere Kurosawa-Filme prägend sein sollte.
Wie schon in „Yoidore tenshi“ (1948, Anniversary-Text) spielen Toshiro Mifune und Takashi Shimura die beiden Hauptrollen, und wieder nutzt Kurosawa sowohl ihren Altersunterschied als auch ihre gegensätzliche Physiognomie für die Charakterzeichnung. Mifune spielt den Polizeineuling Murakami, dem seine Dienstpistole gestohlen wird und der trotz seiner Scham wild entschlossen ist, diese wiederzufinden. Ihm wird Shimura als kluger, erfahrener und etwas desillusionierter Kommissar und Lehrmeister zur Seite gestellt, und gemeinsam ermitteln sie in der schäbigen Unterwelt Tokyos, denn mit der gestohlenen Waffe werden Raubüberfälle und sogar Morde begangen. Kurosawa nutzt die Darstellung der Ermittlungsarbeiten, um eine urbane Nachkriegsgesellschaft in der Transformation zu zeigen: Slums und Spielhöllen, abgerissene Ex-Soldaten und Bettler, rationierte Lebensmittel, Armut und Kleinkriminalität, vor allem aber der omnipräsente Einzug westlicher Kultur in amerikanischer Prägung. Baseball erfreut sich großer Beliebtheit, in den Bars laufen europäische Musik und US-Schlager, es gibt Tanzrevuen mit viel nackter Haut, man trinkt Coca-Cola, die Prostituierten tragen nicht mehr Kimono, sondern beinfreie Damenkleider. Insbesondere in einer langen Montagesequenz, in der sich Murakami als Kriegsveteran ausgibt und die meist unansehnlichen Areale der Stadt durchstreift, sind viele dokumentarische Aufnahmen realer Orte und Menschen zu sehen, die vom Assistenzregisseur Ishiro Honda angefertigt wurden (der 1954 selbst als Regisseur des ersten Godzilla-Films zu Ruhm gelangen sollte). Der erfahrene Kameramann Asakazu Nakai versteht es, die genretypisch häufigen Befragungs- und Dialogsituationen stets originell in Szene zu setzen und in Actionsequenzen entsprechende Dynamik zu enttfalten – Kurosawa sollte noch fast 40 Jahre lang immer wieder mit ihm zusammenarbeiten.
Mag für heutige Zuschauer auch die eine oder andere Metapher etwas schwerfällig daherkommen (etwa wenn geradeauslaufende Schienen gezeigt werden, wenn von einem geraden Weg in die Zukunft die Rede ist), so ist „Nora inu“ ein facettenreicher Krimi, dessen sorgfältige Konstruktion eine Momentaufnahme der spezifisch japanischen späten 1940er Jahre mit einer überzeugenden Charakterentwicklung der Murakami-Figur verbindet. Kurosawa hatte den Film viele Jahre als „zu technisch“ abqualifiziert, doch die Nachwelt hat ihr eigenes wohlwollendes Urteil gefällt. Bei uns ist „Nora inu“ als DVD vom Schweizer Label Trigon erhältlich (Fassungseintrag), während die amerikanische Ausgabe der Criterion Collection einen wie immer stupenden Audiokommentar vom Kurosawa-Experten Stephen Prince bereithält (Fassungseintrag).
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