Mean Streets (1973)
Bei vielen Autorenfilmern, die über viele Jahre arbeiten, lassen sich in ihren Filmographien Themen ausmachen, die in wechselnden Gewändern immer wieder auftauchen: Bei Woody Allen sind es verkopfte Männer, die sich an schönen Frauen abarbeiten, bei Wes Anderson wiederholen sich tragikomische Familienaufstellungen, Lars von Trier holt dunkle Triebe und Begierden ans Tageslicht. Martin Scorsese dagegen brachte genau heute vor 50 Jahren, am 2. Oktober 1973, mit „Mean Streets“ jenen Film in die Kinos, der über Jahrzehnte als Folie für viele weitere seiner Gangsterfilme dienen sollte.
„Mean Streets“ öffnete ein neues Kapitel im US-amerikanischen Kino: Selten zuvor war mit solch schonungsloser Wahrhaftigkeit und Direktheit der schmutzige, gewalttätige Alltag von Kleinkriminellen in Szene gesetzt worden. Ebenso außergewöhnlich war – trotz des sichtbar knappen Budgets – der originelle und an der Nouvelle Vague geschulte Einsatz der Kamera, die in langen Takes, in Zeitlupe oder vor die Brust des Protagonisten geschnallt, immer wieder für neue Seherfahrungen sorgte. Der Verzicht auf herkömmliche Filmmusik und der Einsatz von Popsongs, die das Gezeigte kommentieren oder konterkarieren, war so noch nicht dagewesen und sollte für Scorsese ein immer wieder eingesetztes Mittel bleiben. Aber auch inhaltlich schließt „Mean Streets“ an Scorseses Abschlußfilm „J.R.“ bzw. „Who’s That Knocking at My Door“ (1967, Anniversary-Text) an und führt Motive weiter, die bis heute sein Schaffen dominieren. Die Hauptfigur Charlie (Harvey Keitel) ist gefangen in einem Netz aus Machtstrukturen und einander zuwiderlaufender Loyalitäten: er hadert mit der katholischen Moral und ihrem Widerspruch zur Lebensrealität, er versucht seinen Kindheitsfreund Johnny (Robert De Niro), der sich nicht in die Mafiahierarchie einfügen will, zu schützen. Schließlich will Charlie die Beziehung zu seiner Geliebten (Amy Robinson) zu beenden, die von seinen Autoritäten als unpassend gewertet wird. Lose verknüpfte Szenenfolgen zeigen Charlies Alltag in der schäbigen Halbwelt von New Yorks Little Italy, das als (oft blutrot beleuchtetes) Fegefeuer aus Alkohol, sinnlosen Kneipenschlägereien, Chauvinismus, Rassismus, Gier und Betrug gezeichnet ist. Seinen Konflikten kann Charlie in dieser Welt nicht entkommen, statt einer Auflösung folgt die Katastrophe.
„Mean Streets“, „GoodFellas“ (1990) und „Casino“ (1995) werden oft als Scoreses Mafia-Trilogie gesehen, deren Kernthemen (Glaube, Gewalt, Männerbünde, Hierarchiezwänge) praktisch in allen anderen Filmen des Regisseurs wiederkehren, auch im demnächst erscheinenden „Killers of the Flower Moon“. „Mean Streets“, inzwischen ein halbes Jahrhundert alt, packt den Zuschauer immer noch mit seinem rohen Straßenflair, das sich im November auch in 4K bewundern lassen wird, wenn die UHD-Disc in der Criterion Collection erscheint. Pointiert faßt die OFDb-Kritik von buxtebrawler die Qualitäten von Scorseses drittem Spielfilm zusammen.
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