Beitrag

von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Wüste Experimente in surrealer Seelenlandschaft

Stichwörter: 1970er Avantgarde Boissonnas Frankreich Garrel Jubiläum Klassiker Musikfilm Nico Spielfilm Surrealismus

La cicatrice intérieure (1972)

Seit 1964 bringt  Philippe Garrel nun schon Filme heraus; sein nächster, "La lune crevée", ist bereits in Arbeit und soll idealerweise noch in diesem Jahr erscheinen. Die jüngeren Arbeiten lassen sich recht verdaulich gucken, treten als lockere Liebesdramen und Tragikomödien auf, die sich zwar unter anderem mit der S/W-Ästhetik vom Gros der Konkurrenz abheben, aber doch dem leicht zugänglichen Handlungskino zuzurechnen sind. Etwas anders sieht es beim Frühwerk um 1968 aus, das sich parabelhaft und allegorisch an Figuren und Beziehungen abarbeitet, die dabei sehr abstrakt bleiben und teils mythische Züge aufweisen. Das war schon bei "Le révélateur" (1968) so und das war auch bei dem am 2. Februar 1972 uraufgeführten "La cicatrice intérieure" so, dem letzten von der avantgarde-affinen Produzentin Sylvina Boissonnas produzierten Garrel-Film. Der gerade einmal einstündige Film kommt zwar immerhin in Farbe und mit Ton daher, dürfte aber Seherfahrungen ähnlich effektiv unterlaufen. Ähnlich wie Pasolini nutzt auch Garrel hier (zum Teil) Wüstenlandschaften als Setting, das in seiner Zeitlosigkeit und Leere die Ereignisse nicht mehr in konkreter Lage verortet, sondern eine Allgemeingültigkeit annehmen lässt (auch wenn man heute kaum drumherum kommt, jeder Menge 68er-Zeitgeist am Werk zu sehen)... Damit ist "La cicatrice intérieure" eine Art Vorläufer von entsprechenden Filmen von Gus Van Sant ("Gerry" (2002)), Bruno Dumont ("Twentynine Palms" (2003)) oder Vincent Gallo ("The Brown Bunny" (2003)), ist aber doch etwa surrealer und deutlich abstrakter: Philippe Garrel selbst und weit mehr noch Velvet Underground-Ikone Nico irren hier in der Landschaft umher, die bei all ihrer Schönheit doch auch abweisend wirkt; der Mensch wirkt in ihr klein und einsam, ziel- und orientierungslos. Die Landschaft ist Seelenlandschaft, kündend von Erstarrung, Monotonie und Leere; und zugleich ist sie das Erhabene, vor dem der Mensch an Bedeutung verliert... Rare Begegnungen mit Jean-Pierre Kalfon oder Pierre Clémenti oder das unentschlossene Prozedere der Trennung sorgen weniger für eine erkennbare Dramaturgie, sondern eher – wie Nicos Songs aus ihrem "Desertshore"-Album und die generelle Mehrsprachigkeit bei einstmals untersagter Untertitelung – für einen größeren Interpretationsspielraum, ohne dass "La cicatrice intérieure" – gedreht ohne Drehbuch, aber manchen Quellen zufolge unter Drogenkonsum – jemals verbindlich oder fassbar werden würde. Auch darin zeigt sich die surreale Qualität des Films, der sich bildschön und angereichert mit hörenswerten Songs darbietet – und in seinem so wehmütig-beklemmenden wie kryptischen Blick auf die menschliche Existenz irritierend und für manch einen sicherlich unbefriedigend und ärgerlich ausfällt.


Kommentare und Diskussionen

  1. Noch keine Kommentare vorhanden

Um Kommentare schreiben zu können, müssen Sie eingeloggt sein.

Registrieren/Einloggen im User-Center

Details
Ähnliche Filme