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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahre: Jean Eustaches Berüchtigtster

Stichwörter: 1970er Drama Eustache Frankreich Jubiläum Klassiker Lafont Léaud Lebrun Liebesfilm Nouvelle-Vague Spielfilm

La maman et la putain (1973)

Er gehört fraglos zur Nouvelle Vague, gab 1963 sein Regiedebüt, stand sowohl für Jean-Luc Godard als auch für Jacques Rivette in kleinen Rollen vor der Kamera, startete aber als Regisseur erst durch, als die Nouvelle Vagueohne dass es damals schon jemand gewusst hätte – ihre Spätphase erreicht hatte: der erste Langfilm, der länger als eine Stunde andauerte, kam erst mit dem dokumentarischen "Numéro zéro" (1971) heraus, der erste Langspielfilm (nach einigen mittellangen, knapp 50minütigen Werken) wurde erst am 17. Mai 1973 in Frankreich uraufgeführt: "La maman et la putain"... Ein Film, der mit seinem Titel polarisierte und mit der stattlichen Laufzeit von 220 Minuten abschreckte. Der große Publikumsmagnet wurde Eustache nie so recht. Dass er sich 1981 im Alter von 42 Jahren selbst das Leben nahm, wird mitunter mit den Schwierigkeiten, seine Filmkarriere am Laufen zu halten, in Verbindung gebracht. Eingefleischte Cineast(inn)en haben ihn aber nie vergessen: Jim Jarmusch etwa wimdete Eustache seinen Spielfilm "Broken Flowers" (2005), der auch von Geschlechterrollenbildern handelte. Da passte die Eustache-Widmung, denn "La maman et la putain" – bis heute der bekannteste, ja berüchtigtste unter seinen Filmen – scheint dem Titel nach Die Bilder der Heiligen und der Hure zu bedienen. Eustache widersetzte sich dieser Lesart stetig, aber naheliegend ist sie zumindest auf den ersten Blick auf diese Geschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen.
Der Mann ist Jean-Pierre Léaud, unter Truffaut und Godard zum Gesicht der Nouvelle Vague gewachsen. Er ist Jahrgang 1944 und somit nicht mehr der Jungspund, als welcher er berühmt geworden ist. Seit "La chinoise" (1967) haftete ihm zunehmend der Eindruck eines Stürmer und Drängers an, dessen Zeit bereits überschritten war, der sich überlebt hatte. In "La maman et la putain" geistert er als fast 30-Jähriger durch die Handlung, gedanklich noch dem Pariser Mai verhaftet, der bereits Geschichte ist, derweil die '68er-Bewegung zunehmend den Eindruch eines Auflaufmodells erweckt... Er, teils Godard-Figur, teils Truffaut-Figur, teils Eustache-Alter-Ego, bewegt sich hier zwar noch immer fleißig Phrasen dreschend und liebend gerne diskutierend und dozierend durchs Leben, büßt aber seinen jugendlichen Élan doch bereits etwas ein; fast könnte man meinen, dass er so kurz vor dem 30. Lebensjahr eine Ahnung davon bekommt, wie die midlife crisis sich einmal anfühlen wird, wenn man sie erst einmal durchlebt. Davon dürfte eventuell Eustache bereits Kenntnis gehabt haben, der – Jahrgang 1938 – immerhin schon ein Mittdreißiger war... Jahrgang 1938 war auch Bernadette Lafont, deren 10. Todestag im Juli bald ansteht und die bei Truffaut ("Les mistons" (1957), "Une belle fille comme moi" (1972)), Chabrol ("Le beau Serge" (1958), "Les bonnes femmes" (1960)), Malle ("Le voleur" (1967)) oder Garrel ("Le révélateur" (1968)) eng mit der Nouvelle Vague verbunden war. Sie spielt die Lebensgefährtin des Mannes in diesem Drama, die sich ganz zeitgeistig bereit erklärt für eine offene Beziehung. Mit Françoise Lebrun – wieder Jahrgang 1944 –, die zuletzt von Gaspar Noé an der Seite Dario Argentos ein Denkmal in bzw. mit "Vortex" (2022) gesetzt bekam, tritt dann eine zweite Frau in das Beziehungsgefüge, als ob sich endlich eine Utopie erfüllen würde... Aber dann gibt es doch ein tragisches Erwachen in diesem Drama, das sich viel Zeit und Freiheiten nimmt (und deshalb bis heute nur selten einmal zu sehen ist).


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